Borderline Epidemiologie

Die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPD) stellt eine hohe Belastung für Patient:innen und deren Angehörige dar, aber auch für die beteiligten medizinischen und psychotherapeutischen Fachkräfte.

In der psychosozialen, psychotherapeutischen und psychiatrischen Versorgung zählen Betroffene mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung zu einer häufig anzutreffenden Gruppe von Patient_innen.

Im Rahmen des Beitrages wird ein allgemeiner Überblick zur Epidemiologie und zur Versorgungsforschung der Borderline-Persönlichkeitsstörung gegeben. Lange Zeit gehörte die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) in der Fachwelt zu einem umstrittenen Störungsbild.

Frühe Beschreibungen der BPS lassen sich in Berichten über hysterische Patient_innen bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen. 1883 wurde der Begriff Borderline erstmalig von dem US-amerikanischen Psychiater Hughes zur Bezeichnung für allgemeine Zustände verwendet, die sich auf der Grenze zwischen psychischer Gesundheit und Krankheit bewegen.

Während die BPS zwischen den 1920 und 1950er Jahren überwiegend als eine subpsychotische und zwischen den 1970er und 1980er Jahren auch als eine subaffektive Störung diskutiert wurde, kam es zwischen den 1950er und 1980er Jahren zu einer genaueren Erarbeitung von störungsspezifischen Merkmalen und zur Konzeptualisierung als psychische Entität.

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Auch wenn aktuell noch viele kontrovers diskutierte Themen bestehen gehört die BPS in der Fachwelt weitestgehend zu einem anerkannten Störungsbild. Zahlreiche, in den letzten Jahrzenten veröffentlichte Forschungsarbeiten, haben zum Verständnis dieses Störungsbildes beigetragen.

Trotz der positiven Entwicklungen gehören Borderline-Patient_innen immer noch zu einer Gruppe, welche nicht ausreichend von den psychiatrischen, psychotherapeutischen und psychosozialen Versorgungssystemen profitiert.

Im Rahmen des Beitrages fassen die Autoren den aktuellen Forschungsstand zur Epidemiologie, zum Langzeitverlauf und zur Versorgungsforschung zusammen und verweisen auf strukturelle Probleme und Schnittstellenproblematiken in der psychosozialen, psychotherapeutischen und psychiatrischen Versorgung.

Bevölkerungsbasierte Studien ermittelten bei der BPS eine Häufigkeit zwischen 0,7 und 4,5 %. Einer aktuellen Übersichtsarbeit zufolge beläuft sich die durchschnittliche Prävalenz auf 1,6 %.

Ausgehend von dieser Prävalenzrate können in Deutschland mit einer Bevölkerung von ungefähr 68 Mio. Menschen zwischen dem 18 und 60 Lebensjahr etwa 1 Mio. Menschen an einer BPS erkrankt sein.

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Zu den wesentlichen soziodemographischen Merkmalen gehören jüngeres Durchschnittsalter (Mittelwert 25), alleinlebende Wohnform und geringerer Bildungsstand.

Darüber hinaus zeigen mehrere Forschungsarbeiten, dass die Betroffenen neben der BPS oft noch zusätzliche Störungen wie Substanz- und Alkoholmissbrauchsstörungen, Depression, Angststörungen, Essstörungen, Traumafolgestörungen oder Persönlichkeitsstörungen aufweisen.

Zudem berichten die Betroffenen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung überdurchschnittlich häufiger über somatische Symptome und Beschwerden (z. B. Kopfschmerzen, Migräne, Rückenschmerzen).

Bezüglich des Langzeitverlaufes lieferte die Collaborative Longitudinal Disorders Study erstmalig umfassende Erkenntnisse bei verschiedenen Persönlichkeitsstörungen. An der Untersuchung beteiligten sich insgesamt 668 Patient_innen, die sich zum Stichtag in stationärer Behandlung befanden.

Die Stichprobe setzte sich aus den Diagnosen schizotypische Persönlichkeitsstörung (13 %), ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung (26 %), zwanghafte Persönlichkeitsstörung (23 %) und die BPS (26 %) zusammen. Als Kontrollgruppe wurden Patient_innen mit einer Major Depression (14 %) aufgenommen.

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Bei der BPS zeigten die Ergebnisse über den gesamten 10-jährigen Untersuchungszeitraum eine kumulative Remissionsrate (Abnahme vorhandener diagnostischer Kriterien) von über 90 %. Auch beim allgemeinen Funktionsniveau wiesen die Betroffenen Verbesserungen über den Zeitraum auf.

Im Gegensatz zur Collaborative Longitudinal Personality Disorders Study untersuchte die McLean Study of Adult Development ausschließlich den Langzeitverlauf der BPS. Im Zentrum der Untersuchung standen 290 stationär aufgenommene Borderline-Patient_innen und 72 Patient_innen mit anderen psychiatrischen Diagnosen.

Mittlerweile gehen die aus der Studie gewonnen Daten mit einer Rücklaufquote von 87 % auf einen Zeitraum von über 16 Jahren zurück. Während die Borderline-Patient_innen nach zwei Jahren eine kumulative Remissionsrate (vollständige Abnahme der Kriterien) von 35 % aufwiesen, waren es in der Kontrollgruppe 88 %.

Allerdings stiegen die Remissionsraten in der Borderline-Gruppe über den Untersuchungszeitraum signifikant. Nach 4 Jahren lag die kumulative Remissionsrate bei 55 %, nach 8 Jahren bei 88 %, nach 12 Jahren bei 95 % und nach 16 Jahren bei 99 %.

Ebenso verbesserte sich das psychosoziale Funktionsniveau über den gesamten Untersuchungszeitraum (2 Jahre 14 %, 8 Jahre 43 %, 12 Jahre 50 %, 16 Jahre 60 %). Allerdings waren diese Raten deutlich niedriger als in der Kontrollgruppe (2 Jahre 51 %, 8 Jahre 67 %, 12 Jahre, 85 %, 16 Jahre 85 %).

Auch neuere Langzeitstudien legen eine hohe Remission bei der BPS nahe. Eine Arbeitsgruppe aus Spanien ermittelte in einem 10-jährigen Zeitraum mit insgesamt 64 Patient_innen (Rücklauf 64 %) eine Remissionsrate von 55 %.

In Deutschland fand eine Arbeitsgruppe in einem Untersuchungszeitraum von 12 bis 18 Jahren bei 60 Borderline-Patient_innen (Rücklauf 87 %) eine Remission von 81 %.

Alle Arbeiten weisen darauf hin, dass es sich bei der BPS zumindest auf der Symptomebene nicht um eine chronische psychische Störung handelt.

Der Beginn der Störung liegt in der Regel in der Adoleszenz. Hier zeigen sich erste Symptome wie Impulsivität, Identitätsprobleme und affektive Instabilität, welche auch bei gesunden Jugendlichen im Rahmen der Adoleszenzkrise auftreten können und im frühen Erwachsenenalter durch Symptome der affektiven Dysregulation, Impulsivität, Suizidalität und maladaptive zwischenmenschliche Verhaltensweisen zu einem ausgeprägten Störungsbild manifestieren.

Im mittleren und späteren Erwachsenenalter kommt es zu einer auffallenden Remission vor allem bei den akuten Symptomen, die häufig mit stationären Einweisungen in Verbindung stehen (z. B. Impulsivität, selbstverletzendes Verhalten, Suizidalität, psychotische Dekompensation, Substanzmissbrauch).

Dagegen gehören Symptome wie affektive Instabilität, intensiver Ärger, Gefühle der Leere, Depression und Angst vor dem Alleinsein zu den Symptomen mit einer langsameren Remissionszeit.

Zu den positiven Prädiktoren zählen ein jüngeres Alter bei Erstbehandlungsbeginn, ein guter Bildungsstand sowie eine geringe Inanspruchnahme stationärer Hilfen in der Vergangenheit.

Die Rolle von Psychotherapie wird in diesem Kontext kontrovers diskutiert, weil der direkte Einfluss von psychotherapeutischen Interventionen auf das Remissionsniveau in den Studien schwer nachzuweisen ist, viele der Patient_innen im Verlauf unterschiedliche Therapieerfahrungen aufweisen und in den Studien mit Stichproben ohne eine psychotherapeutische Versorgung die Remissionsraten ebenfalls hoch ausfallen.

Trotz der hohen Remissionsraten weisen Betroffene mit einer BPS in den Verlaufsstudien niedrige Werte in den Bereichen des psychosoziales Funktionsniveaus auf. Weniger als die Hälfte der Patient_innen in der McLean Study of Adult Development zeigte nach 10 Jahren Verbesserungen.

Es ist zu vermuten, dass sekundäre Krankheitsfolgen (z. B. Hinsichtlich der Suizidalität legen die Verlaufsstudien eine Prävalenz von 3 bis 13 % nahe. Das Durchschnittsalter der Suizident_innen liegt zwischen 30 und 37 Jahren.

Die Häufigkeit von Suizidversuchen ist bei der BPS mit 70 bis 80 % signifikant höher. Im Durchschnitt berichten die Betroffenen von drei Suizidversuchen in ihrem Leben.

Gegenüber anderen psychischen Störungen ist die Anzahl von Suizidversuchen bei der BPS deutlich überrepräsentiert.

Folgende Faktoren für ein erhöhtes Suizidrisiko konnten in Verlaufsstudien identifiziert werden: Männliches Geschlecht, lange Krankheitsgeschichte mit unwirksamen Behandlungserfahrungen, Hoffnungslosigkeit, Lebensalter zwischen 30 und 37 Jahren, Substanzmissbrauch, Impulsivität, komorbide Depression, häufige stationäre Aufnahmen in der Vergangenheit, frühere Suizidversuche, fehlende Anbindung an ambulante therapeutische Behandlungsformen, alleinlebende Wohnform, geringe soziale Integration, geringeres Einkommen und geringeres psychosoziales Funktionsniveau.

Allgemein zählt die BPS in der psychosozialen, psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung zu der am häufigsten anzutreffenden Persönlichkeitsstörung.

Einem Review von Ellison et al. (2018) zufolge kann der Anteil von Betroffenen mit einer BPS in den außerstationär-psychiatrischen Versorgungsangeboten auf 12 % und in den stationär-psychiatrischen Angeboten auf 22 % geschätzt werden.

Mit einem Geschlechterverhältnis von 70 zu 30 % ist der Anteil von weiblichen Personen in diesem Bereich deutlich höher.

Es wird davon ausgegangen, dass sich die BPS bei den männlichen Patient_innen häufiger durch externalisierende Symptome (z. B. Impulsivität, Aggressivität, dissoziales Verhalten) auszeichnet und mit hohen Merkmalsausprägungen einer antisozialen Persönlichkeitsstörung oder Substanzmissbrauchsstörung einhergeht, was dazu führt, dass die männlichen Betroffenen eher im forensischen Setting oder im Strafvollzug anzutreffen sind.

Im Vergleich zu anderen Störungen weisen Betroffene mit einer BPS eine überdurchschnittlich hohe Inanspruchnahme von psychotherapeutischen, medizinischen oder psychiatrischen Behandlungen auf.

Hier konnte z. B. die Collaborative Longitudinal Personality Disorders Study zeigen, dass Borderline-Patient_innen in den letzten 12 Monaten hohe Nutzerwerte in Bereichen wie: ambulante Psychotherapie (85 %), medikamentöse Therapie (69 %), Konsultationen von Notaufnahmen (31 %) und stationäre Aufnahmen (31 %) aufwiesen.

In der McLean Study of Adult Development wurden ebenfalls höhere Werte in der Vergangenheit im Vergleich zu einer Kontrollgruppe (KG) ermittelt. Zu den getesteten Variablen gehörten individuelle Psychotherapie (BPS 96 % vs. KG 86 %), Gruppentherapie (BPS 36 % vs. KG 18 %), Familientherapie (BPS 38 % vs. KG 29 %), Selbsthilfegruppen (BPS 51 % vs. KG 32 %), Tagesklinik (BPS 42 % vs. KG 19 %), stationäre Behandlung (BPS 37 % vs. KG 10 %), stationär-psychiatrische Behandlung (BPS 79 % vs. KG 50 %), medikamentöse Therapie (BPS 84 % vs. KG 61 %) und andere nicht weiter spezifizierte Formen der Hospitalisierung (BPS 60 % vs. KG 21 %).

Auch im Langzeitverlauf nimmt die Häufigkeit der Inanspruchnahme trotz Symptomreduktion nur langsam ab. Besonders Betroffene mit einer hohen Ausprägung in den Bereichen Suizidalität, komorbide Angststörungen, psychotische Symptome und mit sexuellen Missbrauchs- oder Gewalterfahrungen in der Kindheit weisen eine gesteigerte Inanspruchnahme auf.

In den letzten Jahren konnten mehrere europäische Studien Daten zu den durch die BPS verursachten direkten (unmittelbar durch die Behandlung und deren Folgen entstandenen Ressourcenverbräuche) und indirekten (alle Produktionsverluste durch Arbeits‑, Erwerbsunfähigkeit oder vorzeitigen Tod, die der Erkrankung zugeordnet werden können) Krankheitskosten ermitteln.

In den Niederlanden berechneten Van Asselt et al. (2007) jährliche Kosten von 21.120 € pro Patient_in. Davon beliefen sich 50 % auf indirekte Kosten. Etwa 12 % entstanden durch stationäre und teilstationäre sowie weitere 10 % durch ambulante Behandlungen.

In Großbritannien berechneten Bateman und Fonagy (2003) direkte Kosten in Höhe von 38.771 € pro Patient_in. Dagegen fand die Arbeitsgruppe um Palmer et al. (2006) für Großbritannien bei den direkten Kosten etwa 16.779 €.

Eine Arbeitsgruppe aus Dänemark ermittelte 40.411 € pro Patient_in. Davon beliefen sich 60 % der Gesamtkosten auf indirekte Kosten.

Für Deutschland berechneten Wagner et al. (2013) in der Berliner Borderline-Versorgungsstudie pro Patient_in jährliche Kosten von 28.026 €, wobei die direkten Kosten (ca. 17.976 €) gegenüber den indirekten Kosten...

Die Erkrankung wird zudem in der Regel durch andere psychiatrische Komorbiditäten wie depressive Phasen, Suchterkrankungen, Angststörungen, posttraumatische Belastungsstörungen, ADHS, somatoforme Störungen und Essstörungen verkompliziert.

Aus diesem komplexen Krankheitsbild resultiert über die Zeit eine intensive Inanspruchnahme verschiedener Gesundheitsdienstleistungen wie akutpsychiatrische Dienste, kurzfristige Kriseninterventionen, stationäre Behandlung, intensive psychiatrische Pflege, teilstationäre Angebote, Sozialarbeit und insbesondere ambulante Psychotherapie.

Aufgrund einer besonderen Spezifität der Borderline-Persönlichkeitsstörung, vornehmlich der emotionalen Instabilität, die mit einer Neigung zu Beziehungsabbrüchen und Spaltungstendenzen einhergeht, ist das behandelnde Umfeld laufend damit konfrontiert, dass die Adhärenz in Bezug auf den Therapieplan, der ein Management von verschiedenen Gesundheitsberufen erfordert, durch die Erkrankung selbst erschwert wird.

In gewisser Weise kann dies als indirekter Ausdruck allgemeiner selbstschädigender Tendenzen verstanden werden, der die Inanspruchnahme von Behandlungen und somit den eigentlichen Nutzen der Behandlungsangebote schmälert.

Die ohnehin bestehenden Inkohärenzen im Behandlungssystem und ein häufig weiterhin fehlendes Schnittstellenmanagement zwischen stationärem und ambulantem Bereich tragen zur Brüchigkeit eines Behandlungsplans bei, der in der Regel eine konzertierte Zusammenarbeit zwischen Ärzt:innen, Psychotherapeut:innen, Sozialarbeiter:innen und anderen Berufen erfordert.

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