Die Versorgungslage von Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) ist ein komplexes Thema, das aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden muss: aus Sicht der Patient*innen, der Behandler*innen und der Ökonomie. Die derzeitigen Versorgungsstrukturen werden dieser Patient*innengruppe aber so wenig gerecht, dass immer noch der größte Teil der in Deutschland für die BPS aufgewendeten Mittel in stationäre Kriseninterventionen fließt.
Die Versorgungslage aus Patientensicht
Schaut man auf die Seite der Patient*innen, so finden diese in Deutschland kaum Zugang zu ambulanten Behandlungsangeboten, insbesondere dann, wenn sie die Kriterien einer „schweren psychischen Erkrankung“ erfüllen. In akuten Krisensituationen sind sie in der Folge auf notfallmäßige Aufnahmen durch psychiatrische Kliniken angewiesen, wo sie sich meist auf nicht diagnosegerechten, unspezifischen Stationen wiederfinden.
In diesem Rahmen erhalten sie in der Regel kurzfristige Kriseninterventionen, die auf die eigentliche Problematik nur begrenzt eingehen können. Erneuten krisenhaften Zuspitzungen kann so kaum vorgebeugt werden, es entwickelt sich vielmehr häufig ein „Drehtür-Effekt“ stationärer Aufnahmen.
Statistische Einordnung
Bei einer Punkt-Prävalenz der Borderline-Störung von 0,8 bis 2,0 % und einer Lebenszeitprävalenz von 5,9 % ist deutschlandweit von min. 656.000 Betroffenen auszugehen. Etwa ein Drittel von ihnen erfüllt die Kriterien einer „schweren psychischen Erkrankung“. Dem steht gegenüber, dass es 2014 in Deutschland etwa 700 spezialisierte (teil-) stationäre Behandlungsplätze gab, was die langen Wartezeiten für Patient*innen und den Druck auf die Akutversorgung erklärt. Spezialisierte ambulante Behandlungsplätze sind nochmals erheblich seltener als stationäre. Zwar nimmt der Anteil störungsspezifisch ausgebildeter Psychotherapeut*innen und Psychiater*innen zu, die strukturellen Rahmenbedingungen erschweren im niedergelassenen Bereich die Behandlung schwer kranker Borderline-Patient*innen aber erheblich.
Psychiatrische Institutsambulanzen (PIA) sind ein wichtiger Baustein der ambulanten Behandlung und potentiell eine zentrale Schnittstelle zwischen stationären und ambulanten Angeboten. Allerdings setzt deren Finanzierung der Behandlung schwer kranker, „betreuungsintensiver“ Patient*innen enge Grenzen.
Die Sicht der Behandelnden
Aus Sicht der Behandler*innen ist die Borderline-Störung zwar komplex und klinisch herausfordernd, inzwischen aber durchaus erfolgversprechend behandelbar. Es liegen vier nachgewiesen wirksame psychotherapeutische Ansätze vor und Verlaufsstudien berichten erhebliche Remissionsraten. Bei einer störungsspezifischen und evidenzbasierten Behandlung besteht also Grund zum Optimismus. Dabei erscheint es weniger entscheidend, ob diese ambulant oder stationär erfolgt. Wichtiger ist die langfristige Behandlungskontinuität, weshalb die S2-Leitlinien eine Vernetzung bestehender Angebote und die Entwicklung von Modellen der Integrierten Versorgung empfehlen.
Es haben sich in Deutschland an einigen Orten regionale DBT-Netzwerke gebildet. Diese bleiben ebenso wie geplante stationäre Behandlungen oft Stückwerk, weil keine ambulante Anschlussbehandlung zustande kommt. Viele, gerade schwer kranke Patient*innen finden gar keine ambulante Behandlung. Sofern ambulante Psychotherapien zu Stande kommen, scheitern diese oft in Krisensituationen. Die in den Behandlungsleitlinien explizit empfohlenen integrierten und vernetzten Strukturen einer Komplexbehandlung fehlen bislang weitgehend.
Ökonomische Betrachtung
Aus ökonomischer Sicht ist zu konstatieren, dass Menschen mit BPS 15 % aller stationär psychiatrischen Behandlungsfälle bilden, aber mit durchschnittlich 70 stationären Behandlungstagen p. a. für 25 % der Gesamtkosten dieser Behandlungen verantwortlich sind. Dabei entfallen 70 % der stationären Behandlungskosten der BPS auf Kriseninterventionen und nur 30 % auf stationäre Psychotherapie. Ambulante Therapien machen gerade einmal ein Zehntel der stationären Behandlungskosten aus. Die Behandlung schwerer Borderline-Störungen erfordert störungsspezifische, evidenzbasierte, langfristig angelegte und krisenfeste Behandlungsangebote.
Gemessen an diesen Anforderungen zeigt sich bis heute in Deutschland eine ökonomische und inhaltlich-therapeutische Fehlsteuerung. Die unter den gegebenen Bedingungen unvermeidlichen Krisenaufenthalte erzeugen extrem hohe Kosten, sind aber kaum in der Lage, mit den Betroffenen therapeutische Fortschritte zu erzielen. Dagegen herrscht vor allem im ambulanten Bereich ein eklatanter Mangel an spezialisierten, evidenzbasierten Behandlungsangeboten.
Das Hamburger Modell der Integrierten Versorgung - Borderline
Mit dem Hamburger Modell der Integrierten Versorgung - Borderline wurde ein DBT-basiertes, multimodales, langfristig angelegtes, krisenfestes Behandlungskonzept für die Behandlung von Patient*innen mit schwerer BPS entwickelt. Vordringliche Ziele sind die Förderung der funktionalen Selbstregulation, vor allem im Bereich der Emotionen, die Verbesserung der Lebensqualität, der Abbau selbstschädigenden Verhaltens und die Reduktion stationärer Kriseninterventionen.
Zentrales Element dieses Konzeptes ist ein ambulantes, interdisziplinäres Team, das zugleich IV-Team und DBT-Team ist. Erste Evaluationsdaten weisen auf eine Verbesserung des Funktionsniveaus und eine deutliche Reduktion der BPS-Symptomatik hin. Außerdem verringerte sich die Zahl der stationären Krankenhaustage erheblich. Das Modell scheint in der Lage zu sein, schwer kranke Borderline-Patient*innen weitestgehend ambulant erfolgreich zu behandeln.
Modelle der Integrierten Versorgung nach § 140 SGB V für „schwer psychisch kranke Patient*innen“ sind in den letzten Jahrzehnten vor allem für Menschen mit psychotischen und affektiven Erkrankungen entwickelt worden. Eine Vorreiterrolle nimmt das gut evaluierte und frequentierte Hamburger Modell der IV-Psychose ein. Dieses über Fallpauschalen finanzierte Modell bietet ein umfassendes Case Management, psychiatrische, psycho- und sozialtherapeutische, bei Bedarf aufsuchende Behandlung, eine permanente Erreichbarkeit und die Möglichkeit zu ambulanter und bei Bedarf auch stationärer Krisenintervention. Borderline-Patient*innen unterscheiden sich in ihrer Problematik, ihren Interaktionsmustern und ihrem Hilfesuchverhalten sehr deutlich von Psychose-Patient*innen und lassen sich in deren Behandlungsmodelle nicht erfolgreich integrieren.
Bislang wurden kaum störungsspezifische IV-Modelle entwickelt. Lediglich zwei kleine amerikanische Pilotstudien geben erste Hinweise darauf, dass eine dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) mit der umfassenden, IV-artigen Struktur eines Assertive Community Treatment (ACT) zu einer Verbesserung von Lebenszufriedenheit und beruflicher Funktionsfähigkeit sowie zu einer deutlichen Reduktion von stationären Behandlungstagen führen kann. Die zentrale Struktur der IV-Borderline ist ein multiprofessionelles, ambulantes IV-Kernteam, das zugleich IV-Team und DBT-Team ist.
Dieses Team gewährleistet eine langfristige, intensive und bei Bedarf nachgehende Komplexbehandlung mit umfassendem Case Management, multimodaler psychotherapeutischer und psychiatrischer Behandlung sowie abgestuften Möglichkeiten der Krisenintervention. Es ist zentral in einem psychiatrischen Krankenhaus mit regionalem Versorgungsauftrag angesiedelt und kann auf dessen ambulante und stationäre Strukturen zurückgreifen. Finanziert wird die Behandlung über pauschalisierte Direktverträge mit einer Reihe von Krankenkassen (bisher DAK, IKK Classic, HEK, AOK-Hamburg-Rheinland, Barmer, BKK-Mobil-Oil).
Inhaltliche Basis ist die DBT, der gegenwärtig am weitesten verbreitete Behandlungsansatz mit der robustesten Evidenz. Mit ihren klaren Rahmenbedingungen und ihrem Fokus auf Reduktion dysfunktionalen Verhaltens ist sie gerade für schwer erkrankte Borderline-Patient*innen gut geeignet. Die DBT ist für einen psychotherapeutischen Ansatz bereits sehr umfangreich konzipiert und vereint verschiedene Behandlungselemente. Dennoch stellt das Konzept der IV-Borderline eine erhebliche strukturelle Erweiterung dar, vor allem in Hinblick auf mögliche Behandlungssettings, sozialpsychiatrische und über die DBT hinausgehende psychotherapeutische Elemente.
Die IV-Borderline entspricht strukturell den Rahmenbedingungen des Hamburger Modells der IV-Psychose, ist aber inhaltlich auf die Behandlung volljähriger Borderline-Patient*innen zugeschnitten, die die Kriterien einer „schweren psychischen Erkrankung“ erfüllen. Diese Patient*innen weisen einen GAF-Wert (Global Assessment of Functioning Scale) von 30-50 auf, leiden also unter einer sehr ernsthaften Symptomatik und einer starken Beeinträchtigung des Funktionierens in mehreren Bereichen ihres Alltags. Das Vorliegen und die Mitbehandlung weiterer komorbider psychiatrischer Erkrankungen ist die Regel. Allerdings sollte die Borderline-Störung im Vordergrund stehen. Das Konzept richtet sich an eine Klientel, die mit bisherigen ambulanten Angeboten nicht oder nur sehr unzureichend erreichbar ist und daher unter bisherigen Bedingungen stationär behandelt werden muss.
Übergeordnete Ziele der Behandlung sind die Förderung funktionalen Verhaltens, die bessere Bewältigung von Krisen sowie die Reduktion stationärer Aufenthalte. Stationäre Krisenaufnahmen sollen nach Möglichkeit vermieden werden, sind aber nicht ausgeschlossen. Stationäre psychiatrische oder psychosomatische Behandlungen in anderen Krankenhäusern sind im IV-Vertrag nicht möglich.
Zusammensetzung des IV-Kernteams
Personell besteht das IV-Kernteam aus Psychotherapeut*innen, Psychiater*innen und Sozialpädagog*innen. Die Behandlung erfolgt im doppelten Bezugstherapeutensystem, sodass Vertretungen während Urlaubs- und Krankheitszeiten möglich sind. Zahlenmäßig sind die Psychotherapeut*innen aufgrund des psychotherapeutischen Kerns der Behandlung am stärksten vertreten. Um eine sachgemäße pharmakologische Behandlung sicherzustellen, sind Psychiater*innen fester Bestandteil des IV-Kernteams und es besteht eine enge Kooperation mit niedergelassenen Psychiater*innen. Ebenso unverzichtbar sind Sozialpädagog*innen als Teil des IV-Kernteams. Da die Betroffenen oft in prekären sozialen Verhältnissen leben, stellt die sozialpädagogische Unterstützung in vielen Fällen erst die Lebensgrundlagen sicher.
Behandlungsansatz
Die Behandlung in der IV-Borderline orientiert sich an den Bedürfnissen schwer kranker Borderline-Patient*innen. Diesen bietet sie eine möglichst weitgehend ambulante, intensive, multimodale und langfristig angelegte Behandlung. Ein zentraler Aspekt ist dabei die Krisenfestigkeit des Angebotes. Krisen sollen möglichst präventiv vermieden werden und wo sie auftreten, sollen sie bewältigt werden können. Störungsspezifische Grundlage der Behandlung ist die DBT.
Vor allem im Konsultationsteam, der wöchentlichen Behandlungskonferenz mit allen beteiligten Berufsgruppen, dem „Herzstück der DBT“, wird das IV-Kernteam zum DBT-Team, das alle Patient*innen gemeinsam behandelt. Übergeordnet geht es darum, die bestmögliche Behandlungsqualität und eine Entlastung der Behandler*innen zu erreichen. Darüber hinaus ist die Ressourcenorientierung ein Grundprinzip der IV-Borderline. So nimmt neben der Reduktion von Problemverhalten und Psychopathologie die Arbeit an der Identifikation und dem Aufbau von Ressourcen eine wichtige Rolle ein. Eine Grundannahme der DBT betont, dass Borderline Betroffene in jeder Situation bereits tun, was ihnen möglich ist. Würden ihnen alternative Verhaltensweisen zur Verfügung stehen, so würden sie ihre Probleme in anderer Weise lösen.
Ablauf der Behandlung
Der Erstkontakt der Patient*innen mit der IV-Borderline findet in der Regel aus einem stationären Aufenthalt heraus statt, manchmal aber auch aus einem ambulanten Setting heraus oder von extern. In einem Informationsgespräch wird die Patient*in ausführlich zu Ablauf und Rahmenbedingungen der angebotenen Behandlung aufgeklärt und das Vorliegen der Einschlusskriterien überprüft. Bei beidseitiger Zustimmung kann die Patient*in in die Therapieeingangsphase starten. Diese umfasst in der Regel fünf Sitzungen, kann jedoch auf maximal drei Monate ausgedehnt werden. Es erfolgt eine ausführliche symptomorientierte und biographische Anamnese, mit Hilfe von Verhaltensanalysen werden in der Folge erste Ideen zum Erklärungsmodell entwickelt und Ziele für die Behandlung abgeleitet.
Im Fokus der Therapieeingangsphase steht begleitend der Aufbau eines tragfähigen, akzeptierenden und veränderungsorientierten Therapiebündnisses sowie die Überprüfung und Stärkung des Commitments. Gemeinsam werden der Therapie- und Lebensvertrag durchgegangen und ggf. weitere ergänzende Therapievereinbarungen wie ein Antiaggressions- oder Abstinenzvertrag ausgehandelt. Die Eingangsphase wird abgeschlossen durch den Besuch der Patient*in in der Behandlungskonferenz, in der sie, unterstützt durch ihre Bezugstherapeut*in, die erarbeiteten Ziele und Vereinbarungen vorstellt. Hier wird über die Aufnahme in die eigentliche Behandlung entschieden und der Behandlungsvertrag unterzeichnet. Um ein möglicherweise noch ausbaufähiges Commitment zu fördern, können eine Probezeit oder auch weitere Bedingungen vereinbart werden, an die die Weiterbehandlung gekoppelt wird.
Neben der individuellen Einzeltherapie nimmt jede Patient*in an einem DBT-Skilltraining teil. Es werden verschiedene Formate angeboten: eine Einsteiger-, eine Standard- und eine weitmaschig stattfindende Refreshergruppe. Nach Absolvieren des Skilltrainings können optional weitere störungs- und themenspezifische Gruppenangebote innerhalb oder außerhalb der Klinik wahrgenommen werden. Nach einem Jahr erfolgt mit der Patient*in im Team ein erstes Bilanzgespräch, in dem die erreichten Fortschritte gewürdigt und die Therapieziele für den weiteren Verlauf angepasst, gleichzeitig jedoch auch innere Hürden kritisch reflektiert werden. Der Erstvertrag mit den Krankenkassen umfasst eine zweijährige Behandlung, über eine Verlängerung wird in einem erneuten Bilanzgespräch entschieden. Kriterien für eine Verlängerung sind die aktive Veränderungsmotivation der Patient*in und die Frage, wie gut diese vom vorgehaltenen Konzept profitiert.
Im Verlauf der Behandlung ist die Zuordnung zu zwei unterschiedlichen Behandlungsstatus möglich - dem Status „IV-Therapie“ oder „IV-Basis“. Der Status „IV-Therapie“ ermöglicht das volle, eng...
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