Autismus und Tourette-Syndrom: Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Neurodiversität beschreibt die Vielfalt neurologischer Entwicklungen und Denkweisen und umfasst dabei alle Variationen der Gehirnfunktionen über verschiedene neurologische Gruppen von Menschen hinweg. Im Konzept der Neurodiversität werden unter anderem Personen mit Autismus, ADHS, Dyskalkulie, Legasthenie, Dyspraxie, Tourette-Syndrom, bipolarer Störung und Hochbegabung zu den neurodivergenten Menschen gezählt.

Autismus-Spektrum-Störung (ASS)

Die Autismus-Spektrum-Störung (ASS) ist eine komplexe Entwicklungsstörung, die sich auf die sozialen Interaktionen, die Kommunikation, die Emotionswahrnehmung und das Verhalten auswirkt. Die Symptome können sehr unterschiedlich sein und variieren stark in ihrer Intensität. Einige Menschen mit Autismus haben Schwierigkeiten in sozialen Interaktionen, da es ihnen schwer fällt die Emotionen anderer wahrzunehmen und einzuordnen und darauf zu reagieren. Einige haben auch spezielle Spezialinteressen. Wiederholende Verhaltensweisen (z. B. Viele Erwachsene mit Autismus, insbesondere solche mit einer späten Diagnose, berichten von Schwierigkeiten in sozialen Beziehungen und im Berufsleben.

Eine frühzeitige Diagnose ist entscheidend, um gezielte Unterstützung anzubieten. Die Behandlung von Autismus zielt darauf ab, die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern und ihre Fähigkeiten zu fördern. Es gibt eine Vielzahl von Therapieansätzen, die helfen können, die Symptome zu managen und die Entwicklung zu unterstützen.

Symptome früh erkennen

Typische Symptome des Asperger-Syndroms machen sich in der Regel erst nach dem dritten Lebensjahr bemerkbar. Vorher zeigen die Kinder aber bereits Auffälligkeiten, was ihre kommunikativen und sprachlichen Fähigkeiten betrifft. Trotz normaler Sprachentwicklung haben sie oft Probleme in der Kommunikation mit anderen Personen.

Auch die motorische Entwicklung ist zum Teil verzögert, allerdings nicht immer. Dennoch wird das Asperger-Syndrom bei Kindern oft erst im Vorschul- oder Schulalter entdeckt.

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Probleme im Umgang mit anderen

Die Betroffenen haben Probleme mit sozialen Interaktionen, was sich etwa beim gemeinsamen Spiel mit Gleichaltrigen zeigt. Manche können zum Beispiel die Gedanken und Gefühle ihrer Mitmenschen schlecht einordnen und haben große Schwierigkeiten, sich auf andere Menschen und soziale Situationen einzustellen. Manchen fällt schwer, den Gesichtsausdruck, die Gestik und den Tonfall anderer richtig zu interpretieren. Sie selbst zeigen oft kaum eine Mimik.

Oft können Kinder mit Asperger-Syndrom auch kein wechselseitiges Gespräch führen. Sie reden, wann sie wollen und über Themen, die sie selbst interessieren, ohne Anpassung an die Zuhörer. Subtile Signale des Gegenübers, zum Beispiel das Thema zu wechseln oder das Gespräch zu beenden, verstehen sie nicht. Oftmals führen Asperger-Autisten auch Selbstgespräche.

Kinder mit Asperger-Syndrom wissen zudem oft nicht, wie man Freundschaften aufbaut. Einige haben allerdings auch gar kein Interesse an sozialen Kontakten und Freundschaften.

Gestörte Aufmerksamkeit durch fixierte Interessen

Weitere mögliche Asperger-Syndrom-Symptome sind ungewöhnliche ausgeprägte Interessen und Kenntnisse, oft in einem eng umgrenzten und teils wenig praxisrelevanten Bereich (Inselbegabungen). Dieses hoch spezifische Interesse kann zum Beispiel Batterien, Kirchtürmen oder dem Schmelzpunkt von Metallen gelten.

Die Betroffenen können so auf ein Interessensgebiet fixiert sein, dass sie (etwa in der Schule) wenig Neugier und Aufmerksamkeit für anderes aufbringen. Aufgrund dieser Aufmerksamkeitsstörung sind Asperger-Syndrom-Kinder oft trotz guter Intelligenz schlechte Schüler.

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Weitere Herausforderungen

Außerdem zeigen sich beim Asperger-Autismus manchmal Störungen der Sinneswahrnehmung. So reagieren einige der Betroffenen sehr empfindlich auf bestimmte Gerüche, Geräusche, Oberflächen oder Berührungsreize. Das kann in Alltagssituationen zu einer regelrechten Reizüberflutung für die Betroffenen werden.

Beim Gehen und bei der motorischen Koordination sind Asperger-Autisten mitunter ungeschickt. Auch stereotype Verhaltensweisen kommen vor. Das können beispielsweise sich wiederholende Bewegungen mit den Händen sein - etwa in Stresssituationen.

Trotz aller Schwierigkeiten bemühen sich Menschen mit Asperger-Syndrom oftmals, nicht aufzufallen und ihre Probleme der sozialen Kompetenz zu kompensieren. Das kann auf Dauer sehr anstrengend und überfordernd sein und dazu führen, dass sich Asperger-Autisten von anderen zurückziehen.

Stärken beim Asperger-Syndrom

Menschen mit Asperger-Syndrom weisen auch viele Stärken auf. So setzt bei ihnen die Sprachentwicklung meist frühzeitig ein: Die betroffenen Kinder können oft schon vor dem freien Laufen sprechen. Mit der Zeit entwickeln sie eine sehr ausgefeilte, wandlungsfähige Sprache mit großem Wortschatz.

Außerdem verfügen Menschen mit Asperger-Syndrom meist über eine gute, in Teilbereichen überdurchschnittliche Intelligenz. Spezialinteressen und Inselbegabungen können manche in ihrem Berufsleben gut verwerten.

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Darüber hinaus ist beim Asperger-Syndrom die Denkfähigkeit oft beeindruckend. Originelle Ideen sowie gute Fähigkeiten zu logischem und abstraktem Denken sind keine Seltenheit.

Aufrichtigkeit, Loyalität, Zuverlässigkeit und ausgeprägter Gerechtigkeitssinn werden oft als weitere Stärken beim Asperger-Syndrom genannt. Auf Lob und Anerkennung reagieren Kinder mit Asperger-Syndrom oft motiviert und dankbar.

Dass Sprachentwicklung und Intelligenz beim Asperger-Syndrom in der Regel normal sind, ist ein wichtiger Unterschied zum frühkindlichen Autismus, der eine andere Form von autistischer Störung ist.

Symptome bei Erwachsenen

Die auffälligen Verhaltensweisen beim Asperger-Autismus sind bei erwachsenen Patienten oft nicht mehr so auffällig wie im Kindesalter. Allerdings verfügen auch Erwachsene meist über einen grammatikalisch korrekten, geschliffenen Sprachstil und eine detaillierte Erzählweise, die aber kaum zwischen Wichtigem und Unwichtigem unterscheidet.

Ebenfalls wie bei Kindern kann das Asperger-Syndrom bei Erwachsenen zu einer eingeschränkten Mimik und dem Vermeiden von Blickkontakt führen. Auf ein Lächeln oder eine humorvolle Bemerkung reagieren viele Betroffene kaum oder gar nicht.

Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion beeinflussen mitunter auch das Thema Partnerschaft. Die Betroffenen wirken oft kühl und egoistisch. Vielen fällt es schwer, Kontakte mit potenziellen Partnern zu knüpfen. Falls es mit einer Beziehung klappt, fällt es vielen schwer, die Anforderungen des Partners bezüglich intensiver Kommunikation und Anteilnahme zu erfüllen.

Auch auf das Sexualleben kann sich das Asperger-Syndrom auswirken: Manche Betroffenen haben nur ein geringes Bedürfnis nach körperlicher Nähe oder sogar eine Abneigung dagegen. Andere haben durchaus den Wunsch nach Sex, sind in konkreten Situationen aber sehr unsicher, weil sexuelle Intimität sich aus einem intensiven gegenseitigen Empathievermögen ergibt.

Nichtsdestotrotz bedeutet das Asperger-Syndrom bei Erwachsenen nicht, dass eine stabile Partnerschaft und das Gründen einer eigenen Familie nicht möglich wären.

Für das Berufsleben kann das Asperger-Syndrom zweierlei Folgen haben: Einige Patienten sind im Umgang mit Kollegen oder Kunden schnell überfordert, ecken mit ihrer sehr direkten, unhöflich wirkenden Art leicht an und können sich kaum flexibel an verschiedene Anforderungen anpassen.

In anderen Fällen wirkt sich das Asperger-Syndrom bei Erwachsenen dagegen vorteilhaft auf die berufliche Entwicklung aus. Nämlich dann, wenn die Betroffenen ihr ausgeprägtes Sonderinteresse (etwa im Informatikbereich) in ihrer Arbeit nutzbringend einsetzen können. Außerdem können viele Asperger-Autisten dank ihrer oft hohen kognitiven Fähigkeiten gut berufliche und private Ziele umsetzen.

Begleiterkrankungen (Komorbiditäten) des Asperger-Syndroms

Menschen mit Asperger-Syndrom können zusätzlich weitere Erkrankungen beziehungsweise Störungen entwickeln, besonders in Krisenzeiten wie Umzug, Umschulung, Pubertät, Geburt oder Tod in der Familie. Am häufigsten handelt es sich dabei um ADHS, Störungen der Motorik, Zwangssymptome, affektive Störungen (wie Depression, Angst), Persönlichkeitsstörungen, aggressives Verhalten und Schlafstörungen. Auch Tics / Tourette-Syndrom, Essstörungen, Stummheit (Mutismus), selbstverletzendes Verhalten und Schizophrenie können den Asperger-Autismus begleiten.

Tourette-Syndrom

Personen mit Tourette haben motorische Tics wie zum Beispiel Schnipsen, Schultern in die Höhe ziehen, den Kopf nach hinten schmeißen oder mit den Augen rollen, und vokale Tics - unterschiedliche Arten von Lauten. Unterdrücken lassen sich diese Tics nicht: Selbst falls es einer Person eine Zeitlang möglich ist, kommen sie danach umso stärker heraus, Urbanek vergleicht das mit Niesen.

Tourette kann sich bei jeder Person unterschiedlich stark zeigen, bei einer schwachen Ausprägung treten die Tics mitunter nicht rund um die Uhr, sondern situationsabhängig auf: zum Beispiel ausschließlich zu Hause, nicht aber im Büro. Aber wenn du im Job vom Chef permanent gestresst wirst, kann sich Tourette verschlechtern», erzählt Urbanek, denn jede Form von Stress wirkt sich auf Tourette negativ aus.

Menschen mit Tourette können im Berufsleben dieselben Leistungen bringen wie Menschen ohne Tourette: «Wenn dich die Kolleg:innen akzeptieren und sich jemand mit Tourette im Job wohlfühlt, gibt es in der Arbeit fast gar keine Probleme», erklärt Urbanek, «man kann Arbeitgeber nur bitten, dass sie den Leuten eine Chance geben.» Und dass sie ihnen eine gewisse Flexibilität zugestehen: «Wenn eine Person merkt, dass sie einen Tag mit starken Tics hat, und an diesem Tag Home Office machen kann - um die Kolleg:innen nicht zu stören, in der U-Bahn nicht beschimpft zu werden und sich selbst wieder auf ein besseres Level zu holen -, wäre das hilfreich», so Urbanek.

ADHS

60 Prozent der Personen mit Tourette haben auch AD(H)S. Das sogenannte Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom gibt es mit und ohne Hyperaktivität - je nachdem heißt es ADHS oder ADS. AD(H)S ist ein Spektrum mit unterschiedlichen Ausprägungen. Es kann sich beispielsweise zeigen in einer hohen Ablenkbarkeit, in impulsivem Handeln, Problemen mit Zeitmanagement oder der Aufmerksamkeit - wobei es genauso den Zustand des «Hyperfokus» gibt: höchste Konzentration und ein regelrechtes Versinken in ein Thema, sofern dieses für die Person interessant ist.

Genetische Aspekte

Manche psychiatrischen und neurologischen Erkrankungen könnten genetisch verwandt sein, so eine Studie des internationalen „Brainstorm Consortiums“. Die Diagnose von psychiatrischen Erkrankungen, wie zum Beispiel Anorexie, Depression oder Schizophrenie, erfolgt bisher vorwiegend anhand der Symptome. Andreas Karwautz, Kinder- und Jugendpsychiater der Universitätsklinik der MedUni und Mit-Autor der Studie, dazu in einer Aussendung: „Es gibt keine ‚reine‘ Depression, oder ‚reine‘ Anorexie, die nicht Symptome anderer psychischer Störungen aufweist. Eine Diagnose ist immer heterogen.“

Die Studie des „Brainstorm Consortiums“, eines Zusammenschlusses mehrerer Arbeitsgruppen der Harvard University und des Massachusetts Institute of Technology, analysierte nun Daten zum Genom von rund 265.000 psychiatrischen und neurologischen Patienten sowie von 785.000 gesunden Menschen. Untersucht wurde, ob Erkrankungen mit bestimmten genetischen Merkmalen miteinander zusammenhängen. Für die aktuelle Studie wurden gemeinsame Erbanlagen von fünfzehn neurologischen und zehn psychiatrischen Erkrankungen überprüft.

Das zentrale Ergebnis: Es gibt bei einigen psychiatrischen Erkrankungen große genetische Gemeinsamkeiten, wodurch das Risiko sich erhöht, im Fall einer Krankheit auch an der entsprechend korrelierten zu erkranken. Das gilt für Schizophrenie, depressive Episoden, bipolare Störung, Angststörung und ADHS, nicht aber für das Tourette-Syndrom (Tics) und Autismus. Diese wiesen kaum genetische Korrelationen auf.

Die folgende Tabelle fasst einige der genetischen Korrelationen zusammen, die in der Studie des Brainstorm Consortiums gefunden wurden:

Genetisch verwandte Erkrankungen Keine genetische Korrelation
Schizophrenie, depressive Episoden, bipolare Störung, Angststörung, ADHS Tourette-Syndrom, Autismus
Depression und Angststörung
Magersucht und Zwangsstörungen
Schizophrenie und bipolare Störung

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