Autismus und Bildung: Eine persönliche Perspektive

Wie erkenne ich, ob mein Kind eine Autismus-Spektrum-Störung hat? Diese Frage stellen sich in letzter Zeit scheinbar immer mehr Eltern. Eine Leserin dieses Blogs erzählt ihre Geschichte aus erster Hand. Erfahrungsberichte von anderen betroffenen Eltern sind in diesem Zusammenhang Goldes wert.

Die Geschichte eines Sohnes

Mein Sohn, 6,5 Jahre, bereitet uns derzeit (und in Wahrheit schon seit längerer Zeit) Sorgen. Wir überlegen intensiv, wie wir ihm helfen können. Er war schon immer, d.h. heißt seit langer Zeit, ein etwas „anderes“ Kind. Er brauchte für viele Dinge viel länger und ist sehr, sehr willensstark. Wenn ihm etwas nicht passt oder er etwas Spezielles sofort will, schreit oder jammert er so lange (teilweise über 1-2 Stunden), bis er es irgendwann bekommt.

Das ist zum Teil völlig irrational und sinnlos, aber in dieser Sekunde/Stunde gibt es für ihn nur diese eine Sache und er blendet alles andere aus. Dazu muss ich sagen, dass er Einzelkind ist, sehr behütet ist und natürlich sehr verwöhnt wird bzw. die volle Aufmerksamkeit hat. Er ist wahnsinnig „marottig“, besteht auf seine Routinen und Rituale und kann eigentlich kaum von diesen abweichen. Wenn er dazu genötigt wird oder ihn etwas in seinem Thema stört, beginnt der Druck und auch teilweise sein Terror.

Seine „Themen“ kreisen in kontinuierlichen „Etappen“ immer wieder um dieselben Dinge. Dies sind zum Beispiel Elektrotechnik, Bahnhöfe oder Jahreszeiten. Er kennt zum Thema viele Dinge auswendig, weiß extreme Details und es geht so weit, dass er überhaupt nicht zuhört oder folgt und fast in seiner Welt „gefangen“ ist. Unser Sohn baut dann an einem technischen Gerät herum, zerlegt es. Dann am Folgetag ist er in einem anderen Thema, ein paar Tage darauf beginnt das „Spiel“ wieder von vorne. Dies alles nur als Beispiel.

Natürlich hat er auch ganz normale Phasen, hat Freude an Treffen mit anderen Kindern, Erlebnissen in der Natur etc. Beim Kontakt mit Kindern muss man sagen, dass er auch hier teilweise „eigen“ ist. Er hat Freude an Kindern, aber ganz oft sind es interessanterweise jüngere oder ältere Kinder, die ihn interessieren, nicht aber gleichaltrige. Sprachlich ist er extrem gut entwickelt, hat einen breiten Wortschatz, spricht in komplizierten Sätzen, etc. Auch kann er schwierige Zusammenhänge erfassen und logische Schlussfolgerungen ziehen.

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Folgen und aufpassen, was man ihm sagt, tut er wenig. Man kann Dinge 1000-mal wiederholen, hat aber das Gefühl, es kommt nicht an. Alles dauert ewig, er tut oft, was er will und wenn man ihm sagt, tu das bitte nicht, dann macht er es oftmals dennoch und findet das noch lustig. Die Kränkung oder unsere Wut erkennt er nicht. Umgekehrt kommen alle Informationen sofort bei ihm an, wenn ihn etwas interessiert oder etwas wissen will. Er fragt viel nach, wenn Erwachsene reden, hört alles, registriert alles. Alles nur eine Frage, ob er Interesse hat oder nicht.

Er wird sehr geliebt und bis dato haben wir seine „seltsame Art“ ganz gut kaschieren können und als simple Eigenheit abgetan. Und jetzt ab Herbst begann die Einschulung - und das Unheil nahm seinen Lauf. Er wurde in der Regelschule eingeschult. Dort hat er die Aufnahme problemlos geschafft. Aber nun habe ich fast jede Woche mit der Lehrerin zu tun.

Probleme in der Schule

Meistens sind es „Hoppalas“ - passiert garantiert bei jedem Werk-/Malunterricht. Dort gibt es immer wieder total nasse Hefte oder verklebte Bücher, weil er nicht mit Wasserfarben oder Klebstoff hantierten kann (oder will?). Er nimmt viel zu viel Wasser, schüttet es dann um, verwischt alles. Er hat bis dato noch kein „Werk“ vollendet. Dann ist er deprimiert und zerreißt es mitunter auch. Im Lesen und Rechnen ist es genauso schwierig - jedoch nicht auf intellektueller Ebene, sondern im Bereich der Konzentration. Immer kommt von der Lehrerin der Input, dass er einfach dahin träumt, nicht aufpasst, was zu tun ist, und dann ganz etwas anderes macht.

So hat er zum Beispiel eine Buchseite mit Rot bemalt, obwohl die Buchstaben „A“ und „E“ rot einzukreisen gewesen wären. Schulaufgaben sind öfter daheim „nachzubearbeiten“ und Fehler auszumerzen. Die Lehrerin hat ihn schon seit einiger Zeit auf einen Einzelplatz gesetzt und spricht ihn direkt an. Aber es dringt oft nicht durch und er ist in seiner Gedankenwelt. Auf unsere Nachfrage an ihn, wie es in der Schule war, sagt er gut. Aber er will darüber nicht reden. Auf die Frage, warum er sich nicht endlich konzentriert und mitmacht im Unterricht, sagt er (immer!), weiß ich nicht oder mal mag ich nicht (weil es interessiert ihn in dem Moment nicht).

Gleiches Thema haben wir bei der Hausübung: Er kommt heim, weiß manchmal nicht mal, was Hausaufgabe ist und/oder will sie nicht machen. Manchmal kann es problemlos und spielend leicht klappen. Zum Beispiel, wenn wir einen guten Moment erwischen oder wir ihn mit einer Belohnung locken oder tun, was er will. Zum Beispiel muss meine Mama dabeisitzen und die Hausübung muss im Wohnzimmer mit dem einen roten Stift gemacht werden. An schlechten Tagen wird aus dem HÜ-Thema oder dem Thema Konzentration in der Schule der blanke Horror.

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Er fängt dann wild an, ewig lang herum zu lachen, nur Blödsinn zu tun, reagiert nicht mehr auf Zureden, spricht 1000-mal Unsinnswörter. All das machte er vor der Einschulung nie! Die Wörter sind völlig sinnlos, irgendwie ist es fast so, als ob er sich in ein Universum flüchtet, in das wir keinen Zutritt haben, sobald er sich unter Druck gesetzt fühlt. Gut zureden, schimpfen, ins Zimmer schicken, das Gespräch suchen, etc. bringt alles eigentlich nichts. Irgendwann (vielleicht durch eine Ablenkung) hört dieser „Anfall“ dann auf und man kann mit ihm wieder etwas anfangen. In der Schule macht er so eine „Szene“ nicht, da gilt er zwar als Träumer mit Wahrnehmungsproblemen und Konzentrationslosigkeit, aber auch als gut erzogenes, liebes Kind.

Schulpsychologische Untersuchung

Uns wurde durch die Schule angeraten, eine schulpsychologische Untersuchung machen zu lassen. Das haben wir getan. Ich ging zu einer niedergelassenen Schulpsychologin, weil ich dies nicht über die Schule durchführen lassen wollte. Ich hatte Bedenken, ihn dadurch einem etwaigen Stigma auszusetzen. Auch ist die Untersuchung der niedergelassenen Psychologin weitreichender und bezieht neben dem IQ und dem Entwicklungsstand viele weitere Aspekte mit ein. Wir warten derzeit auf das Ergebnis der Austestung, wir erfahren es demnächst.

Ich bin einfach, muss ich sagen, recht verzweifelt. Ich sehe, dass es in seiner jetzigen Klasse (auch wenn er die Lehrerin mag und seine Kollegen und alle sehr bemüht sind) so nicht weitergehen kann. Die Lehrerin und die Direktorin sehen ihn eher in der Vorschule. Ich weiß aber nicht, ob das der richtige Weg ist. Er kann bereits gut lesen, interessiert sich für diverse Sachthemen, will nur einfach das nicht tun, was man in dem Moment von ihm verlangt. Ich glaube nicht, dass das Thema dadurch, dass er in der Vorschule ist, gelöst wird. Eher ist er dann vielleicht unterfordert, was die Unzufriedenheit steigert und im nächsten Herbst beginnt der Zirkus erneut. Vielleicht wäre eine andere Schulform für ihn besser? Ist er überhaupt beschulbar? Er ist an sich recht intelligent, aber es scheitert an anderen Dingen.

Ich bin mir sicher, dass er neben einem extrem starken Willen und der Gewohnheit, viel zu bekommen, solange er „brüllt“, auch ein anderes Thema in sich hat. Ich schwanke zwischen Asperger und ADS, bin aber kein Arzt oder Psychologe. Man wird sehen, was bei der Austestung herauskommt. Ich will ihm aber nicht einen „Diagnosestempel“ aufdrücken und ihm womöglich in einem normalen Schulprozess schaden. Ich als betroffene Mutter bin mir fast sicher, dass sich hier eine Diagnose ergeben wird. Für uns persönlich war diese Diagnose sehr heilsam. Denn wir wussten endlich, woran wir sind. Wir sind Betroffene.

Inklusion in der Schule

Eine Klasse, wo Kinder unterschiedlichster Behinderungen und Verhaltensauffälligkeiten gemeinsam mit gesunden Kindern unterrichtet werden, kenne ich nicht und ist in der Praxis auch schwer vorstellbar. Also für Deutschland gibt es das schon länger, bislang allerdings meist noch auf freiwilliger Basis.

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Es ging darum drei behinderten Kindern einer Klasse, Henry mit Down-Syndrom, Selma mit einer fortschreitenden körperlichen Einschränkung und Robert, dessen Behinderung nicht weiter erwähnt wird weil dessen Eltern das nicht wollen. Jedenfalls haben die Kinder (im Fall von Henry nach einem erhelblichen Kampf durch seine Eltern) in einer Klasse gemeinsam mit 13 gesunden Kindern die Grundschule besucht, wobei Henry an denselben Themen gearbeitet hat wie die anderen Kinder, jedoch nach seinen Möglichkeiten.

Als ein Großteil dieser Kinder (inkl. der beiden körperlich behinderten) aufs Gymnasium gewechselt ist wollten die Eltern von Henry ihrem Sohn das auch ermöglichen. In der Grundschulklasse hatte es mit dem differenzieren ja super geklapp. Hernys Eltern war sehr wohl bewusst dass ihr Sohn nie das Abitur machen würde. Aber sie wußten auch dass er durch mit- und nachmachen im Kreis seiner Freunde mehr lernen würde als an jeder Sonder- oder Förderschule und dass diejenigen Kinder, die ihn schon von klein auf kannten und schätzten, ihm auch weiter gute Freunde sein würden.

Was ich im Buch unter anderem gelesen habe ist, dass sich die Mutter von Henry bereit erklärt hat, alle Klassenarbeiten ihres Sohnes und im Vergleich dazu die Klassenarbeiten der anderen Kinder zu kopieren und dem Gymnasium zur Verfügung zu stellen damit die daran sehen können, wie in der Grundschule differenziert wurde. Angefordert wurden die Arbeiten nie, keiner aht sich dafür interessiert. Außerdem hatten die Lehrer des Gymnasiums die Chance, sich anzusehen, wie in der Grundschule differenziert unterrichtet wurde. Doch die Reaktion war nur "Das können wir nicht" was eigentlich auf ein "Das wollen wir nicht machen" hinauslief.

Aber abgesehen davon wäre es eine seltene Häufung von Zufällen wenn wirklich Kinder mit unterschiedlichsten Handycaps gemeinsam mit gesunden Kindern in einer Klasse sitzen würden. Wichtig ist vielmehr grundsätzliche Offenheit gegenüber den Einschränkungen, Schwächen und Gaben der Kinder, welche tatsächlich in den Klassen sitzen. Lese- und Rechenschwäche sowie Legsathenie, Teilleistungsschwächen- und Stärken, Minder- und auch Hochbegabung sowie unterschiedliche Verarbeitungsgeschwindigkeiten sind hingegen relativ häufig. Auch ein Grunschullehrer, welcher 4 Jahre hindurch dieselbe Klasse unterrichtet, wird mit all diesen Voraussetzungen im Laufe seines Lehrer-Daseins mehrfach konfrontiert sein. Daher sind DAS die Dinge, die ihm beim Eintritt in den Beruf schon geläufig sein sollten.

Gehörlose Kinder sind z.B. ziemlich selten. Wenn es hoch kommt gibt es in Wien pro Jahrgang maximal 30 gehörlose Kinder. Würde jedes diese Kinder im Zuge der Inklusion in einer "normale" Volksschule eingeschult müssten 30 Lehrer - jeder für sich - erst mal lernen, wie auf die besondern Bedürfnisse eines gehörlosen Kindes eingegangen wird. Bauliche und technische Maßnahmen wie z.B. für FM-Anlagen würden ein Vermögen verschlingen und spätestens nach Ende der Grundschulzeit des jeweiligen Kindes wären die Anschaffungen wertlos.

Auf was würde so eine Entwicklung hinauslaufen? Wenn statt dessen 2 oder 3 Schulen sich schwerpunktmäßig auf hörgeschädigte Kinder konzentrieren, ist das wesentlich effektiver. Davon würden nicht nur gehörlose, sondern auch mittel- oder hochgradig schwerhörige Kinder profitieren. Die Schulen sollten ganz normale Schulen bleiben (mit großteils gesunden Kindern), nur eben mit Schwerpunkt auf eine Behinderung, für welche die Lehrer besonders sensibiliert sind bzw. wo sie durch speziell ausgebildete Förderlehrkräfte Unterstützung bekommen. Je nach individueller Möglichkeit könnten in manchen Klassen gebärdensprachkompetente Lehrer im Team mit lautsprachlichen Lehrern den Unterricht vermitteln. Das hätte für die gesunden Kinder noch den Nebeneffekt, gleich eine neue Sprache zu erlernen. Dasselbe gilt auch für andere Behindungen wie z.B. Blindheit oder Taubblindheit.

Inklusion kann nicht bedeuten dass man ein Kind mit Handycap in einer "normalen" Schulklasse sich selbst überlässt.

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