Zwangsstörungen sind hartnäckig, sinnlos, komplex, manchmal skurril und in vielerlei Hinsicht stark belastend, dennoch werden sie von Laien oft nicht ernst genug genommen.
1-3% der Allgemeinbevölkerung erkrankt im Laufe des Lebens an Zwangsstörungen. Charakteristisch dafür ist ein schleichender Beginn der Erkrankung rund um das 20. Lebensjahr. Betroffene versuchen lange Zeit, ihre Symptome zu verbergen und begeben sich meist erst sehr spät in eine Behandlung.
Schätzungen zufolge leben in Deutschland mehr als 1,2 Millionen Menschen mit einer klinisch relevanten Zwangsstörung. Am häufigsten sind Kontroll- sowie Wasch- und Reinigungszwänge, aber auch unter Ordnungs- und Symmetriezwängen leiden viele Betroffene.
Symptome und Erscheinungsformen von Zwangsstörungen
Zwangsgedanken sind Gedanken (auch Vorstellungen oder Handlungsimpulse), die sich aufdrängen und von Betroffenen als sinnlos, störend, beschämend, abstoßend oder lästig erlebt werden. Zwangsgedanken sind Bilder, Gedanken oder Impulse, die immer wieder gegen Ihren eigenen Willen auftauchen, sehr aufdringlich erscheinen und sich trotz Ihrer intensiven Bemühungen nicht unterdrücken lassen.
Sie erscheinen Ihnen fremd, spiegeln keineswegs Ihre eigene Meinung wider und wirken daher oftmals bedrohlich, abstoßend und widersinnig. Zwangsgedanken kreisen häufig um Vorstellungen, sich durch Keime oder Umweltgifte zu gefährden, fahrlässig ein Unglück zu verursachen, aber auch dass man andere Personen verletzen oder sogar töten könnte, obwohl man das ganz schrecklich fände.
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Zwangsgedanken (z.B. „meine Hände sind voll von Bakterien“) lösen Unbehagen, Angst, Ekel, Scham aus. Diese unangenehmen Emotionen führen bei Betroffenen zu Zwangshandlungen (z.B.: Wiederkehrende Gedanken, Bilder oder Handlungen wie z.B.
Zwangshandlungen sind Verhaltensweisen oder auch Rituale, die Sie immer wieder „tun müssen“. Sie fühlen sich gezwungen dazu, obwohl Sie die Handlungen im Nachhinein als übertrieben und sinnlos ansehen. Unter Zwangshandlungen werden exzessive Wiederholungen alltäglicher Verhaltensweisen verstanden, welche nach bestimmten Regeln oder stereotyp ausgeführt werden.
Sie haben das Ziel, Anspannung zu reduzieren oder befürchtete Bedrohungen/Katastrophen zu verhindern. Die Handlungen sind deutlich übertrieben. Zwangshandlungen dienen der Abwehr unangenehmer Gefühle. Sie sollen Katastrophen verhindern und Gefühle wie Angst, Schuldgefühle, Traurigkeit oder Unruhe lindern.
Auch gibt es gewisse Zwangshandlungen, die als Zähl-, Wiederholungs- oder Betzwänge auch in gedanklicher Form durchgeführt werden können. Die Betroffenen leiden unter ihren Symptomen oder werden durch diese in ihrer sozialen oder individuellen Leistungsfähigkeit behindert.
Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen werden von Betroffenen als eigene Gedanken / Handlungen angesehen und nicht als von außen aufgezwungen. Sie wiederholen sich ständig und werden als unangenehm, übertrieben und unsinnig empfunden. Gegen mindestens einen Zwangsgedanken oder eine Zwangshandlung wird erfolglos Widerstand geleistet.
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Die Symptome einer Zwangserkrankung können in Stärke und Form unterschiedlich ausgeprägt sein. Bei vielen Betroffenen variiert die Intensität von Zeit zu Zeit.
Die ersten Hinweise für eine mögliche Zwangsstörung kommen oft aus dem persönlichen Umfeld oder der Familie. Da sich viele Menschen wegen ihrer Störung schämen, sollten die Auffälligkeiten nicht konfrontativ oder vorwurfsvoll, sondern mitfühlend und unterstützend angesprochen werden.
Angehörige können den Betroffenen Hoffnung machen und sie motivieren, professionelle Hilfe anzunehmen, denn Zwangsstörungen sind gut behandelbar. Häufig sind Familienmitglieder in die Zwänge eingebunden, da sie sich gezwungen fühlen, z.B. Reinlichkeitsrituale mit durchzuführen, den Betroffenen Kontrollen abzunehmen oder ihnen ständig zu versichern, dass alles in Ordnung ist.
Dies führt zwar kurzfristig zur Reduktion des Leidensdruckes bei den Betroffenen, langfristig jedoch zu einer Verstärkung der Hilflosigkeit und des Zwangsverhaltens. Diese Form der vermeintlichen Unterstützung sollte deshalb auch in der professionellen Behandlung thematisiert werden.
Ursachen und Entstehung
Bei der Entstehung einer Zwangsstörung wirken verschiedene Faktoren zusammen. Unter anderem sind es familiäre und soziale Faktoren, die erhöhte Belastung und Stress erzeugen und als Ursachen gesehen werden.
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Dabei muss in der Betrachtung der Biographie nicht immer gleich ein traumatisches Erlebnis wie Missbrauch oder Tod eines nahen Angehörigen zu sehen sein. Betroffene beschreiben ihre Kindheit oft als unauffällig und unbeschwert. Es wird in Fachkreisen angenommen, dass Zwangsstörungen unterschiedliche Ursachen haben.
Diese können auch zusammenwirken. Zum Beispiel eine erbliche Veranlagung, psychische Belastungen oder schwierige Lebensumstände bzw. Krisen. Auch Persönlichkeitsfaktoren können eine Rolle spielen (z.B. besonders gewissenhaft sein).
Neurobiologische Modelle: Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass es bei einer Zwangsstörung zu Funktionsstörungen in manchen Teilen des Gehirns kommen kann (Frontalhirn, Basalganglien und limbisches System). Zudem dürfte es zu Störungen im Gehirnstoffwechsel bei dem Botenstoff Serotonin kommen.
Lerntheoretische Modelle: Diese gehen davon aus, dass Betroffene Angst- und Spannungszustände durch Zwangsrituale zu vermeiden oder zu verringern versuchen. Zudem führt die stark negative Bewertung von Zwangsgedanken zu Schuldgefühlen. Ein Teufelskreis aus Angst und Zwang entsteht.
Psychodynamische Modelle: Diese sehen mögliche Ursachen von Zwangsstörungen in inneren - oft unbewussten - Konflikten.
Diagnose von Zwangsstörungen
Jeder Behandlung geht eine genaue Diagnostik (Differentialdiagnostik) voraus. Diese erfordert unter anderem eine fundierte Analyse der Zwangsgedanken und Rituale (z.B.: Schwankungen der Symptome; Erwartungen und Befürchtungen; Situationen, in denen die Zwänge auftreten; Situationen, die aufgrund der Zwänge vermieden werden).
Dabei kommt es meist auch zum Einsatz von spezifischen psychologischen Fragebögen. Zudem wird ein individuelles Erklärungsmodell erstellt, welches Einsicht in die Entwicklung der Störung bietet. Dieses umfasst vorexistierende Risikofaktoren (z.B. Erziehungsstile in der Familie oder in der Schule, genetische Faktoren etc.) ebenso wie Auslöser (z.B. akute oder chronische Belastungen) und aufrechterhaltende Faktoren (z.B.
Zu Beginn eines Diagnoseprozesses erfolgt die Erhebung der Krankengeschichte (Anamnese). Dabei finden auch Fragen zu den Beschwerden und zur Lebensgeschichte (z.B. belastende Krisen, andere Erkrankungen, Medikamente etc.) Berücksichtigung. Auch eine klinisch-psychologische Diagnostik kann sinnvoll sein.
Körperliche Ursachen für die Erkrankung (z.B. Demenz oder Schlaganfall) müssen durch eine Ärztin/einen Arzt ausgeschlossen werden (z.B. Zwangsstörungen werden in Österreich nach der ICD-10 (International Classification of Diseases) diagnostiziert. Auch Diagnosekriterien des internationalen sogenannten DSM-V können hinzugezogen werden.
Es gibt psychische Erkrankungen, die Zwangsstörungen sehr ähnlich sein können. Zum Beispiel eine generalisierte Angststörung. Bei dieser macht man sich über vieles sehr starke Sorgen und hat große Ängste in Bezug auf viele Lebenssituationen. Auch z.B. Tic-Störungen können einer Zwangsstörung sehr ähnlich sein bzw.
Zudem kann eine Zwangsstörung gemeinsam mit anderen psychischen Erkrankungen auftreten. So leiden z.B. viele Betroffene auch unter Depressionen - vor allem im Erwachsenenalter. Essstörungen und Schizophrenie treten bei Menschen mit Zwangserkrankungen häufiger auf. In seltenen Fällen ist das zwanghafte Verhalten auf eine Persönlichkeitsstörung zurückzuführen (anankastische oder Zwangspersönlichkeitsstörung).
Behandlungsmöglichkeiten von Zwangsstörungen
Mithilfe einer Therapie können die Symptome einer Zwangsstörung zumindest verringert werden. Somit ist wieder ein unbeschwerterer Alltag möglich. Zu den Säulen der Behandlung zählen Psychotherapie sowie Medikamente. Vorrangig wird Psychotherapie empfohlen.
Ein Gespräch mit einer Fachärztin/einem Facharzt für Psychiatrie (und psychotherapeutische Medizin) hilft, einschätzen zu können, ob und welcher Behandlungsbedarf besteht. In vertrauensvollem Rahmen wird in der Psychotherapie über Probleme, Ängste und Sorgen gesprochen. Betroffene lernen, mit der Erkrankung umzugehen und das eigene Verhalten zu kontrollieren.
Verhaltenstherapeutische Ansätze (vor allem aus der kognitiven Verhaltenstherapie) haben sich in der Behandlung von Zwangsstörungen besonders bewährt. Ergänzend dazu oder wenn eine Psychotherapie (noch) nicht möglich ist, kommen Medikamente zum Einsatz. Und zwar sogenannte Antidepressiva.
Diese Medikamente werden auch bei Depressionen eingesetzt. Vor allem SSRI (selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) kommen zum Einsatz. Die Ärztin/der Arzt kann zudem den Einsatz von Clomipramin (nicht selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) in Betracht ziehen. Die Ärztin/der Arzt klärt über Wirkung und mögliche Nebenwirkungen auf.
Auch eine klinisch-psychologische Behandlung kann sinnvoll sein. Sie vermittelt gezielt Bewältigungsstrategien im Umgang mit den Zwängen. Manchen Menschen tut es zudem gut, Entspannungstechniken anzuwenden (z.B. Autogenes Training). Zudem kann der Austausch in einer Selbsthilfegruppe hilfreich sein.
Ist die Erkrankung sehr stark ausgeprägt, ist auch ein stationärer Krankenhausaufenthalt oder eine Rehabilitation möglich.
Verhaltenstherapie
Verhaltenstherapie bei Zwangsstörungen ist eine der effektivsten Behandlungsmethoden. Hierbei kommen verschiedene Techniken zum Einsatz:
- Exposition mit Reaktionsmanagement (ERM) bei Zwangshandlungen: Der Patient/Die Patientin wird mit einem angstauslösenden Stimulus (real oder in der Vorstellung) konfrontiert (Exposition) und darf seine/ihre Zwangsrituale nicht ausführen. Z.B.: Ein Patient/Eine Patientin, der/die unter einem ausgeprägten Waschzwang leidet, wird aufgefordert mit seiner/ihrer Hand den Straßenboden zu berühren und darf sich danach nicht waschen.
- Exposition mit Reaktionsmanagement (ERM) bei Zwangsgedanken: Dabei wird der schlimmste Zwangsgedanke (z.B. „ich töte mein Kind“) möglichst genau beschrieben: Das gefürchtete Ereignis soll in der Gegenwart, mit klaren Worten, in der Ich-Form und sehr detailreich - wie in einem Drehbuch - ausformuliert werden.
- Prolongierte Exposition (bei Zwangshandlungen und/oder Zwangsgedanken): Zwangsinhalte entstehen nicht zufällig, sondern lassen sich auf belastende lebensgeschichtliche Ereignisse zurückführen. Diese Zusammenhänge sind dem Patienten/der Patientin oft nicht bewusst.
Während der Exposition werden die auftretenden negativen emotionalen Zustände vom Therapeuten genauer hinterfragt, z.B.: „Woher kennen Sie diese Gefühle“, „haben Sie ähnliche Emotionen früher schon einmal erlebt?“, um so diese lebensgeschichtlichen Ereignisse der Erinnerung des Patienten/der Patientin zugänglich zu machen (Affektbrücke).
Für eine erfolgreiche Behandlung ist die Frage nach der Funktionalität des Zwanges zentral. Beispiele für mögliche Funktionen: Abgrenzung, Autonomie, der Zwang zur Bewältigung von Schuldgefühlen, Aggressionen, sozialer Ängste, einem mangelnden Selbstwert oder einer Depression; der Zwang als Schutz vor Verantwortung, zur Erlangung von Zuwendung oder Aufmerksamkeit etc.
Was können Angehörige tun?
Für Angehörige ist das Zusammenleben mit Menschen, die an einer Zwangsstörung leiden, nicht immer einfach. Es kann zum Beispiel zu herausfordernden Situationen oder Konflikten kommen. Angehörige können jedoch auch eine wichtige Unterstützung für Menschen mit einer Zwangsstörung sein und auch in die Behandlung mit einbezogen werden.
Zudem gibt es Selbsthilfegruppen für Angehörige. In denen kann man sich z.B. austauschen, welches Verhalten hilfreich ist und welches eher nicht oder wie man auf sich selbst achten kann.
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