Psychische Erkrankungen stellen eine erhebliche Belastung für das Gesundheitssystem und die Volkswirtschaft dar. Etwa jeder fünfte Mensch leidet in den letzten 12 Monaten an einer psychischen Erkrankung, und ein Drittel der Allgemeinbevölkerung ist im Laufe des Lebens von psychischen Störungen betroffen. Die Folgen reichen von individuellen Einschränkungen im Alltag bis hin zu volkswirtschaftlichen Schäden durch Arbeitslosigkeit und Frühpensionierungen.
Die Psychiatrie ist dabei aufgefordert, die wachsende Wahrnehmung von Menschen- und Bürgerrechten genauso zu reflektieren, wie die Vorstellungen von menschlicher Würde, Freiheit und Selbstbestimmung, auch (oder gerade) wenn letztere durch psychiatrische Erkrankungen oft eingeschränkt oder aufgehoben ist. Das Aufzeigen und Besprechen ausgewählter Problemfelder der psychiatrischen Ethik ist für die Entwicklung der beruflichen Identität künftiger Ärzte und Fachärzte von fundamentaler Bedeutung.
Ethische Aspekte in der Psychiatrie
Ethische Fragen gewinnen immer dann an Bedeutung, wenn tradierte humanistische und religiöse Wertsysteme entweder infrage gestellt werden oder die allgemeingültige Normfunktion verloren haben. Da heutzutage ehemals grundlegende Überzeugungen ihre Verbindlichkeit abgelegt haben, fordert und fördert die Ethik das Reden über Moral, da alle Beteiligten eine neue Orientierungssicherheit benötigen. Der ethisch reflektierende und handelnde Arzt muss sich bemühen, moralische Probleme zu gewichten. Damit er diese mit der nötigen Sensibilität wahrnehmen kann, ist es unerlässlich, dass er seine Wachsamkeit schärft und mit großer Aufmerksamkeit die Entwicklung der biomedizinischen und biotechnischen Möglichkeiten verfolgt.
Die Verführung durch das Machbare ist in der Tat gewaltig, das technisch Realisierbare hat Dimensionen angenommen, die vor wenigen Jahren noch nicht vorstellbar waren. Dabei können allerdings auch bei guter Begründung ethische Empfehlungen den Therapeuten schwerwiegende Entscheidungen nicht abnehmen, sie können aber die Last der Entscheidung verringern, wenn sie dazu beitragen, ihnen in ihrem Handeln größere Klarheit zu vermitteln. Und so kann und soll sich in der Erörterung der ethischen Fragestellungen ein begriffliches Instrumentarium entwickeln, mit dessen Hilfe es gelingt, Problemfälle zu erkennen und diese einer adäquaten Lösung zuzuführen.
Psychotherapie im Allgemeinspital
Diese Entwicklung hat für die psychiatrischen Abteilungen viele Themen aufgetan, denen sich die AG Psychiatrie im Allgemeinspital widmet. Eingeladen in dieser Arbeitsgruppe sind alle Primariae/i der psychiatrischen Abteilungen im Allgemeinspital in Österreich. Die Arbeitsgruppe trifft sich 2 bis 3 mal im Jahr, um aktuelle Themen zu besprechen, gemeinsame Lösungen zu finden und Standards zu definieren.
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Stationäre Psychotherapie
Die meist integrierten Behandlungskonzepte von stationären psychotherapeutischen Einrichtungen haben sich im Arbeitsfeld der Psychiatrie und psychiatrischen Psychosomatik entwickelt, um wirksame Intensivbehandlungen für Menschen mit komplexen psychiatrischen und/oder psychosomatischen Erkrankungen anbieten zu können. Auch durch Studien nachgewiesen wurde, dass diese Personen durch eine stationäre Psychotherapie nachhaltig profitieren können in Bezug auf Lebensqualität, Autonomie in der Lebensgestaltung, Symptombelastung und Arbeitsfähigkeit.
Unsere Arbeitsgemeinschaft vernetzt KollegInnen, die im Bereich der stationären Psychotherapie arbeiten. Uns ist es ein Anliegen, die Stellung der Psychotherapie in der Psychiatrie und auch in der Fachgesellschaft zu stärken. Hierzu werden alle KollegInnen, die in Österreich im Bereich der stationären Psychotherapie in der Psychiatrie tätig sind (und sich auf unsere Liste setzen lassen), regelmäßig zu Sitzungen eingeladen. Weitere Schwerpunkte liegen in der Verankerung der Psychotherapie in der Facharztausbildung und in der Förderung von Studien zur Psychotherapieforschung.
Psychotherapeutische Versorgung in Österreich
In Österreich wird die psychotherapeutische Versorgung im niedergelassenen Bereich finanziell über die Kostenzuschussregelung und kassenfinanzierten Psychotherapiestunden geregelt. Die vorliegende Studie untersucht, inwiefern sich der Anteil an selbstfinanzierten und kassenfinanzierten Psychotherapieeinheiten über die Jahre 2017-2020 unter Berücksichtigung des sozioökonomischen/krankheitsbezogenen und behandlungsbezogenen Status verändert hat.
Gemäß dem Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz der Republik Österreich ist eine Psychotherapie bei Vorliegen einer psychischen Erkrankung (nach der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten ICD-10) eine Pflichtleistung der österreichischen Gesundheitskasse(n). Es ist jedoch festzustellen, dass in Österreich nur ein Teil der Personen mit psychischen Erkrankungen eine psychotherapeutische Behandlung erhält.
Die Ergebnisse einer aktuellen bevölkerungsrepräsentativen Umfrage zeigen, dass in Österreich nur 27 % der Personen mit psychischen Erkrankungen einen Kassenplatz für Psychotherapie erhalten. Weitere 21 % bezahlen die Psychotherapie gänzlich aus privaten Mitteln. Die Mehrheit der Betroffenen (52 %) muss die Kosten für ambulante Psychotherapie, bis auf einen Kostenzuschuss von 28 €, selbst tragen.
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Die vorliegende Studie verdeutlicht, dass die Inanspruchnahme von ambulanter Psychotherapie und Kassenplätzen für Psychotherapie bei Patient*innen mit chronisch psychischen Erkrankungen in den letzten vier Jahren, trotz Erhöhung des Kassenzuschuss im Jahr 2018 und etwaiger Aufstockungen an Kassenplätzen, unverändert geblieben ist.
Eine psychotherapeutische Behandlung kann auch zu Einsparungen von indirekten Kosten beitragen. Die Kosten für psychotherapeutische Behandlung werden durch die Einsparungen, aufgrund der Reduktion von Hospitalisierungen, Medikamenten und Produktivitätsverlusten, mehr als aufgewogen. Ein früher Diagnosezeitpunkt und eine rechtzeitige Behandlung sind weiters für die Eindämmung der Kosten entscheidend.
Studienergebnisse zur psychotherapeutischen Versorgung
Die Stichprobe umfasst 6387 stationäre Patient*innen mit chronisch psychischen Erkrankungen, die im Zuge einer stationären psychotherapeutischen Behandlung zu ambulanter Psychotherapie befragt wurden. Das durchschnittliche Alter beträgt 47,9 Jahre, mit einem Frauenanteil von 65 %.
Die Ergebnisse der sozioökonomischen und krankheitsbezogenen Angaben der Patient*innen sind in Tab. 1 dargestellt. Zum Zeitpunkt der Aufnahme waren 70,2 % der Patient*innen arbeitsunfähig und 11,9 % der Patient*innen waren in Frühpension. Mehr als ein Drittel (38,8 %) gab an, dass ihnen weniger als 1000 € im Monat zu Verfügung stehe. Es gaben 45,9 % der Patient*innen an in den letzten 12 Monaten bis zu zwei Wochen stationär im Krankenhaus gewesen zu sein und 19,9 % gaben an mehr als 20-Mal in den letzten sechs Monaten einen Arzt konsultiert zu haben. Die Patient*innen litten zum größten Teil seit mehr als zwei Jahren an einer psychischen Erkrankung (70,1 %).
Die Ergebnisse zur psychotherapeutischen Vorbehandlung und geplanten weiterführenden Behandlung sind in Tab. 2 und 3 angegeben. Eine ambulante psychotherapeutische Vorbehandlung hatten 4283 Patient*innen (81,7 %), wobei diese bei 53,9 % länger als ein Jahr dauerte. Eine weiterführende ambulante Psychotherapie hatten 88,1 % der Patient*innen geplant.
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Von jenen Patienten*innen mit einer ambulanten psychotherapeutischen Vorbehandlung hatten 1932 (45,5 %) einen Kassenplatz und 2318 (54,5 %) keinen Kassenplatz. Vergleicht man Patient*innen mit/ohne einen Kassenplatz, hatten Patient*innen mit einem Kassenplatz ein signifikant geringeres Einkommen als jene ohne Kassenplatz (t = 12,69, p = 0,022). Zudem hatten Patient*innen mit einem Kassenplatz signifikant häufiger eine stationäre Vorbehandlung als jene ohne (t = −10,83, p = 0,041).
Der Anteil der privaten Kosten für eine Psychotherapieeinheit ist demnach auch nach der Erhöhung des Kostenzuschusses 2018 unverändert hoch.
Im Vergleich von Patient*innen mit versus ohne Kassenplatz zeigten sich keine signifikanten Unterschiede in Hinblick auf den Schweregrad der krankheitsbezogenen Symptomatik, z. B. depressiv/ängstliche Symptome.
Die Ergebnisse zeigen, dass Patient*innen mit chronischer psychischer Erkrankung, trotz teilweise wiederholter stationärer psychotherapeutischer Aufenthalte nur zur Hälfte (54,5 %), einen Kassenplatz für Psychotherapie in Anspruch nehmen können und vielfach mehrere Monate auf diesen warten müssen. Patient*innen mit und ohne Kassenplatz weisen eine vergleichbar hohe Symptombelastung auf. Der Schweregrad der Symptome steht demnach in keinem Zusammenhang mit der Inanspruchnahme eines Kassenplatzes. Knapp 30 % der Patient*innen ohne Kassenplatz haben ein geringes Einkommen (weniger als 1000 € im Monat). Die privat finanzierten Kosten für Psychotherapie (ca. 4000 € pro Jahr) stellen eine erhebliche finanzielle Belastung dar.
Es zeigt sich auch, dass der Anteil der Patient*innen mit chronisch psychischen Erkrankungen, die einen Kassenplatz in Anspruch nehmen konnten, im Zeitraum zwischen 2017-2020 trotz Erhöhung des Kassenzuschuss und etwaiger Aufstockungen an Kassenplätzen unverändert geblieben ist. Die Prävalenz von psychischen Erkrankungen hat jedoch seit der COVID-19 Pandemie zugenommen und die subjektive Belastung und der Behandlungsbedarf sind bei Patient*innen mit chronischen psychischen Erkrankungen ungleich höher als bei Patient*innen mit physischen Erkrankungen.
Es ist bedauerlich, dass in Österreich zwar fast alle Patient*innen mit chronischen psychischen Erkrankungen eine Psychopharmaka Therapie in Anspruch nehmen können, jedoch nur die Hälfte eine Psychotherapie in Anspruch nehmen kann. Die Effekte von Psychotherapie haben sich zudem im Vergleich zur Psychopharmaka Therapie als langfristiger erwiesen.
Tabelle 1: Sozioökonomische und krankheitsbezogene Angaben der Patient*innen
Variable | Prozent (%) |
---|---|
Arbeitsunfähig | 70.2 |
Frühpension | 11.9 |
Einkommen unter 1000 € | 38.8 |
Stationärer Aufenthalt (letzte 12 Monate, bis zu 2 Wochen) | 45.9 |
Arztkonsultationen (letzte 6 Monate, mehr als 20-mal) | 19.9 |
Dauer der psychischen Erkrankung (mehr als 2 Jahre) | 70.1 |
Tabelle 2: Behandlungsbezogene Daten
Behandlungsbezogene Daten | Kassenplatz % (n) | Kein Kassenplatz % (n) | Gesamte Stichprobe % (N) |
---|---|---|---|
Stationäre Vorbehandlung Ja | 59,0 (1138) | 42,6 (984) | 46,1 (2424) |
Stationäre Vorbehandlung Nein | 41,0 (791) | 57,4 (1328) | 53,9 (2839) |
Anzahl psychotherapeutischer Behandlungen (ambulant), in den letzten 12 Monaten 1- bis 5‑mal | 28 (505) | 26,7 (589) | 27,3 (1100) |
Anzahl psychotherapeutischer Behandlungen (ambulant), in den letzten 12 Monaten 6- bis 10-mal | 19,7 (355) | 21,7 (477) | 20,8 (838) |
Anzahl psychotherapeutischer Behandlungen (ambulant), in den letzten 12 Monaten 11- bis 20-mal | 19,5 (352) | 23,6 (520) | 21,8 (877) |
Anzahl psychotherapeutischer Behandlungen (ambulant), in den letzten 12 Monaten Mehr als 20-mal | 32,7 (590) | 28 (616) | 30,2 (1217) |
Gesamtdauer psychotherapeutischer Vorbehandlung (ambulant) Bis 3 Monate | 22 (416) | 22,5 (516) | 22,2 (936) |
Gesamtdauer psychotherapeutischer Vorbehandlung (ambulant) Bis 1 Jahr | 19,6 (371) | 27,6 (635) | 23,9 (1010) |
Gesamtdauer psychotherapeutischer Vorbehandlung (ambulant) Länger als 1 Jahr | 58,4 (1107) | 49,9 (1146) | 53,9 (2273) |
Wartezeit auf Kassenplatz Bis 1 Woche | 19,6 (258) | - | 19,6 (358) |
Wartezeit auf Kassenplatz Bis 5 Wochen (1 Mo.) | 39,2 (715) | - | 39,3 (716) |
Wartezeit auf Kassenplatz Bis 15 Wochen (3 Mo.) | 22,1 (402) | - | 22,0 (402) |
Wartezeit auf Kassenplatz Bis 30 Wochen (6 Mo.) | 7,4 (135) | - | 7,4 (135) |
Wartezeit auf Kassenplatz Mehr als 30 Wochen (6 Mo.) | 11,7 (213) | - | 11,7 (213) |
Kosten für nicht Kassen-finanzierte Psychotherapie (je Einheit/Stunde) Bis € 50 | - | 15,3 (349) | 15,3 (350) |
Kosten für nicht Kassen-finanzierte Psychotherapie (je Einheit/Stunde) Bis € 100 | - | 71,7 (1638) | 71,7 (1639) |
Kosten für nicht Kassen-finanzierte Psychotherapie (je Einheit/Stunde) Mehr als € 100 | - | 13,0 (298) | 13,0 (298) |
Eigenes Einkommen Weniger als 1000 € | 50,3 (502) | 28,5 (336) | 38,8 (1067) |
Eigenes Einkommen 1000-2000 € | 42,4 (424) | 49,3 (581) | 46,1 (1267) |
Eigenes Einkommen Mehr als 2000 € | 7,3 (73) | 22,2 (1178) | 15,1 (416) |
Erwerbsunfähigkeit Ja | 71,8 (1328) | 68,6 (1545) | 70,2 (3598) |
Erwerbsunfähigkeit Nein | 28,2 (522) | 31,4 (706) | 29,8 (1531) |
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