Können Verhaltensauffälligkeiten wie ADHS schon im Säuglingsalter erkannt werden? Sophia (1) kam zu früh zu Welt und erlitt bei der Geburt einen Sauerstoffmangel. Sie hatte anfangs Trinkschwierigkeiten und schmerzhafte Koliken. Sie schlief wenig, schrie viel und ließ sich kaum trösten. Im Kindergarten fiel Sophia auf, weil sie kaum stillsitzen konnte, nur kurz bei einem Spiel blieb und selten Regeln einhielt. Sophia war 6 Jahre alt, als bei ihr ADHS (ein Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom) festgestellt wurde.
ADHS wird häufig erst im Schulalter diagnostiziert, wenn Kinder Schwierigkeiten haben, sich zu konzentrieren, Anweisungen zu folgen oder mit Impulsivität kämpfen. Doch erste Hinweise auf eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) können sich bereits im Säuglings- und Kleinkindalter zeigen. Auch wenn nur eine Verdachtsdiagnose in diesen frühen Jahren gestellt werden kann, lohnt es sich für Eltern, bestimmte Verhaltensauffälligkeiten zu beobachten und wahrzunehmen. Manche Symptome oder Auffälligkeiten können mögliche Hinweise auf eine spätere ADHS sein.
Die Antwort lautet: Nein! Eine zuverlässige Diagnose kann, ExpertInnen zufolge, frühestens ab dem 6. Lebensjahr gestellt werden. Nicht jedes quengelige, schwer zu beruhigende Baby hat ADHS und nicht jedes ADHS-Kind zeigte als Baby Verhaltensauffälligkeiten! Aber bei ca. ADHS wird vererbt, ähnliche Verhaltensmerkmale finden sich meist bei anderen Familienmitgliedern: Sophias Vater war ein sehr unruhiger Säugling und ein unkonzentrierter, undisziplinierter Schüler. Genetisch bedingt bei ADHS sind Besonderheiten in der Gehirnanatomie und im Gehirnstoffwechsel. Diese betreffen u.a. das Frontalhirn, welches Aufmerksamkeit und Impulse steuert, und das Neurotransmittersystem, welches eine wesentliche Rolle bei Lernprozessen spielt. ADHS ist kein Schicksal.
Nicht nur die genetischen Anlagen, mit denen ein Mensch geboren wird, sondern auch das Umfeld, in dem er aufwächst, bestimmen seine Entwicklung. Erfahrungen und Lernen verändern das Gehirn. Die Säuglingsforschung geht davon aus, dass bei Babys mit den oben beschriebenen Symptomen Reifungsverzögerungen und Anpassungsstörungen vorliegen. Diese Kinder brauchen besonders feinfühlige Betreuung. Sie sind darauf angewiesen, dass ihre Bezugspersonen ihre Signale richtig deuten und auf sie eingehen. Wenn sie erleben, dass sie verstanden werden, dass ihre Bedürfnisse liebevoll und zuverlässig erfüllt werden, lernen sie allmählich, sich selbst zu regulieren. Auf diese Weise werden Reifungsprozesse nachgeholt. Keine einfache Aufgabe für Eltern!
Die Betreuung des Säuglings kann zur seelischen Belastungsprobe werden, wenn dieser sich nicht trösten lässt, wenn schlaflose Nächte, rastlose Tage zur körperlichen und psychischen Erschöpfung führen. Dass Eltern an ihre Grenzen stoßen, ist kein Verschulden ihrerseits, sondern die Folge äußerst belastender Umstände. ExpertInnen empfehlen, beizeiten professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, sei es in einer Schreiambulanz, einem Frühförderzentrum, einer Erziehungsberatungsstelle oder einem sozialpädiatrischem Zentrum. Dort lässt sich klären, was dem Säugling fehlt und die Eltern werden beim Aufbau einer sicheren, tragfähigen Beziehung zu ihrem Kind unterstützt, die es ihm erlaubt, seine Reifungsverzögerung aufzuholen.
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Frühe Anzeichen und Symptome von ADHS
Hier sind einige Merkmale, auf die Eltern achten können:
- Regulationsstörungen mit langanhaltenden Schreiphasen: Regulationsstörungen sind oft die ersten Anzeichen, die Eltern wahrnehmen, wenn ihr Baby ungewöhnlich viel und lange schreit. Während viele Säuglinge Phasen des Schreiens haben, ist es bei Kindern mit späteren ADHS-Veranlagungen häufig intensiver und länger anhaltend. Beispiel: Ein Kind schreit mehrere Stunden am Tag, selbst wenn es gefüttert, gewickelt und in einer ruhigen Umgebung ist. Beruhigungsversuche, wie das Tragen oder sanftes Schaukeln, haben wenig bis gar keinen Effekt. Solche langanhaltenden Schreiphasen können auf eine erschwerte Selbstregulation hindeuten.
- Schlaf- und Essprobleme: Auch Schwierigkeiten beim Schlafen oder Essen können frühe Zeichen sein. Babys und Kleinkinder mit ADHS-Risikofaktoren haben oft einen unruhigen Schlaf oder finden schwer in den Schlaf. Beim Essen zeigen sie sich möglicherweise wählerisch oder verweigern feste Nahrung, sobald sie älter werden. Solche Kinder verlange oft länger nach der Flasche. Beispiel: Ein Kleinkind wacht nachts häufig auf, braucht lange, um wieder einzuschlafen, oder verweigert die Nahrungsaufnahme regelmäßig, was oft zu Stresssituationen für die Eltern führt. Diese Schlaf- und Essprobleme können ebenfalls ein Hinweis auf eine gestörte Selbstregulation sein.
- Motorische Unruhe: Während viele Kleinkinder natürlich aktiv und bewegungsfreudig sind, kann eine übermäßige motorische Unruhe auffällig sein. Kinder, die ständig in Bewegung sind, selten ruhig sitzen bleiben oder ihre Körperkontrolle nicht gut beherrschen, zeigen möglicherweise ein frühes Zeichen für ADHS. Beispiel: Ein Kind krabbelt unaufhörlich, klettert in gefährliche Situationen und wirkt rastlos, wenn es mal ruhig sitzen soll, wie beim Essen. Diese motorische Unruhe übersteigt das normale Maß an Aktivität, das in diesem Alter üblich ist, und kann für Eltern belastend sein. Auch beim Einschlafen ergibt sich oft eine auffallende motorische Unruhe.
- Kurzer, flüchtiger Blickkontakt: Blickkontakt ist ein wichtiger Teil der sozialen Kommunikation und Bindung. Während alle Babys und Kleinkinder hin und wieder ihren Blick abwenden, zeigen manche Kinder mit ADHS-Charakteristiken oft nur sehr kurzen und flüchtigen Blickkontakt. Sie scheinen schneller abgelenkt und haben Mühe, die Aufmerksamkeit auf eine Person zu richten. Beispiel: Eltern stellen fest, dass ihr Kind beim Füttern oder Wickeln kaum Augenkontakt hält und sich schnell anderen Reizen zuwendet, z. B. Geräuschen oder Bewegungen im Raum.
- Ablehnung von Körperkontakt: Ein weiteres mögliches Zeichen für ADHS im frühen Kindesalter kann eine Abneigung gegen Körperkontakt sein. Während viele Kinder die körperliche Nähe ihrer Eltern genießen, zeigen manche Babys und Kleinkinder eine klare Abwehrhaltung. Beispiel: Ein Kind windet sich, wenn es gehalten oder umarmt wird, und bevorzugt es, auf Abstand zu sein. Auch das Tragen oder Kuscheln kann für solche Kinder eher unangenehm sein, was oft das Bindungserleben der Eltern beeinflusst.
- Geringe Frustrationstoleranz: Kinder mit einer Veranlagung zu ADHS zeigen oft eine niedrige Schwelle für Frustration und Wutausbrüche. Schon bei kleineren Herausforderungen oder Wartezeiten können sie ungeduldig oder wütend reagieren. Beispiel: Ein Kind beginnt zu weinen oder zu schreien, wenn es etwas nicht sofort bekommt oder wenn ein Spielzeug nicht so funktioniert, wie es das möchte.
- Probleme beim Übergang zwischen Aktivitäten: Diese Kinder haben häufig Schwierigkeiten, von einer Aktivität zur nächsten zu wechseln und zeigen sich unflexibel im Umgang mit Veränderungen. Beispiel: Wenn das Spiel endet oder es Zeit ist, ins Bett zu gehen, reagiert das Kind oft mit intensiven Protesten oder einem Wutanfall.
- Starke Reizbarkeit: Babys und Kleinkinder, die auf viele Reize stark oder überempfindlich reagieren, haben möglicherweise Schwierigkeiten, ihre Reaktionen zu regulieren. Beispiel: Das Kind reagiert auf laute Geräusche, helles Licht oder plötzliche Veränderungen sehr empfindlich und wird schnell unruhig oder beginnt zu weinen.
- Unregelmäßige Tagesstruktur: Kinder mit einem späteren ADHS-Risiko haben oft Schwierigkeiten, eine regelmäßige Tagesstruktur zu entwickeln. Schlaf- und Wachzeiten sind oft unregelmäßig, und auch Essgewohnheiten können stark schwanken. Beispiel: Das Kind hat keinen festen Rhythmus für Schlaf- und Wachzeiten, und auch die Essenszeiten sind unbeständig, was den Alltag der Eltern erschwert.
- Vermehrte Ablenkbarkeit: Ein weiteres Merkmal kann eine hohe Ablenkbarkeit sein. Diese Kinder verlieren schnell das Interesse an einer Tätigkeit und sind durch jede kleine Veränderung im Raum abgelenkt. Beispiel: Beim Spielen mit einem Spielzeug wendet sich das Kind sofort einem anderen Gegenstand zu, wenn es etwas Neues oder Unbekanntes sieht.
- Impulsivität: Auch im frühen Kindesalter können Anzeichen für Impulsivität auftreten. Diese Kinder handeln schnell, ohne nachzudenken, und haben oft Mühe, sich zu beherrschen. Beispiel: Ein Kind greift nach Dingen, ohne Rücksicht auf mögliche Konsequenzen (z. B. nach einem heißen Getränk) oder zieht an anderen Kindern, um deren Aufmerksamkeit zu gewinnen.
- Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion: Kinder mit ADHS-Anzeichen können bereits im Kleinkindalter Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Kindern oder Erwachsenen zeigen. Sie finden es unter Umständen schwer, mit anderen zu spielen oder sich in soziale Situationen einzufügen. Beispiel: Ein Kind greift andere Kinder an, um Spielzeug zu bekommen, oder hat Schwierigkeiten, sich in einer Spielgruppe einzufügen, weil es die Interaktionen nicht versteht oder oft unterbricht.
Warum sollten Eltern auf diese Merkmale achten?
Diese frühen Anzeichen bedeuten nicht zwangsläufig, dass ein Kind ADHS entwickelt. Viele dieser Verhaltensweisen sind auch bei anderen Kindern normal und verschwinden von selbst. Dennoch kann es hilfreich sein, ein genaues Auge darauf zu haben und eine Dokumentation zu führen. Wenn sich diese Auffälligkeiten häufen oder die Entwicklung des Kindes nachhaltig beeinflussen, ist es ratsam, eine frühe Beratung oder Abklärung in Anspruch zu nehmen. Frühzeitige Interventionen und Unterstützung können später dabei helfen, mit möglichen Herausforderungen besser umzugehen.
Eltern sind oft die besten Beobachter für die Entwicklung ihres Kindes.
ADHS gilt als angeborene Störung, die sich schon vor dem sechsten Lebensjahr bemerkbar macht. Oft bleibt sie ein Leben lang bestehen. Die ADHS-Symptome äußern sich allerdings bei Säuglingen, Kleinkindern, Jugendlichen und Erwachsenen unterschiedlich. Frühe Anzeichen beim Säugling Eine sichere Diagnose von ADHS ist im Säuglingsalter noch nicht möglich. Forscher haben in Langzeitstudien allerdings einen Zusammenhang zwischen ADHS und sogenannten Regulationsstörungen (Schwierigkeiten bei der Nahrungsaufnahme und der Verdauung, Schlafprobleme) gefunden. Babys mit Regulationsstörung schreien oft und lang, schlafen schlecht und lassen sich manchmal nur schwer füttern. Sie sind zudem sehr unruhig und wirken oft schlecht gelaunt. Manche Säuglinge, die später im Leben ADHS entwickeln, lehnen Körperkontakte ab. Ein solches Verhalten kann allerdings auch ganz andere Ursachen haben. Nur etwa ein Drittel der Babys, die solche Verhaltensweisen zeigen, erhält später die Diagnose ADHS.
Auch bei Kleinkindern ist ADHS nur schwer zu erkennen. Ein ADHS-Kleinkind schreit in der Regel sehr viel, hat keine Lust zu spielen und nur eine geringe Fähigkeit zur Aufmerksamkeit. Typische ADHS-Symptome sind in diesem Alter ausgeprägte motorische Unruhe und Rastlosigkeit.
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