Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Erwachsenenalter ist in verschiedenen therapeutischen Settings von hoher klinischer Relevanz. Ausgehend von wichtigen Forschungsergebnissen vermittelt dieses Werk Therapeuten und Betroffenen grundlegendes Wissen über die ADHS und ihre Behandlung. Dabei werden auch besondere Aspekte der ADHS thematisiert, wie die Komorbidität mit Abhängigkeitserkrankungen oder Autismus sowie begleitende Phänomene wie Kreativität oder Delinquenz.
Die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, ist eine der am meisten verbreiteten Diagnosen bei Kindern und Jugendlichen und seit ca. 30 Jahren in der fachlichen, aber auch außerfachlichen Öffentlichkeit in aller Munde. Was hat es mit dieser Diagnosekategorie auf sich? Ist sie Fluch oder Segen, Chance oder Risiko, Last oder Entlastung, Krankheit oder Mythos?
Die Diagnose ADHS: Beruhigung oder oberflächliche Erklärung?
Die Diagnose ADHS schafft - wenn auch vordergründig - Beruhigung, sie suggeriert Klarheit. Das Problemfeld um Aufmerksamkeitsstörungen, Unruhe und Impulsivität bekommt im wahrsten Sinne des Wortes einen Namen. Damit erscheint ein schwieriges Verhalten weniger fremd und bedrohlich, es kann eingeordnet und erklärt werden.
Außerdem wird das störende Verhalten behandelbar, die Biomedizin bietet mit der Verabreichung von Psychostimulanzien die Möglichkeit, die Symptomatik relativ schnell zu lindern beziehungsweise zu unterdrücken. Ist die Diagnose der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung einmal gestellt, gibt es eine direkte Möglichkeit, zu (be-)handeln. Dies bietet eine vergleichsweise schnelle Lösung im Hinblick auf die (Wieder-)Herstellung von sozial erwünschtem Verhalten.
Entlastung des Umfelds?
Zunächst führt die Diagnose, verknüpft mit der im ADHS-Diskurs dominanten Annahme einer genetisch bedingten Hirnstoffwechselstörung, zu einer Entlastung und Beruhigung des Umfelds. Weder Eltern noch Pädagog:innen müssen sich über psychosoziale Problemstellungen und Konflikte Gedanken machen. Die Ursache der Störung wird in das Kind verlagert, das Kind hat den (Gen-)Defekt und das Umfeld trägt keine Verantwortung für die Ursachen hyperaktiven, impulsiven und unaufmerksamen Verhaltens. Natürlich wollen Eltern mit großer Mehrheit das „Beste“ für ihr Kind. Sie wollen nicht an schwierigem, störendem Verhalten schuld sein, als Eltern nicht versagen. Dies ist ein zentraler Aspekt, der zur breiten Akzeptanz und zum Bestehen auf einer Diagnose führt.
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Die Vorstellung, die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung gleiche einer Infektionskrankheit oder einer genetisch bedingten Störung, kann große Entlastung schaffen. Dabei ist die Anerkennung mannigfaltiger Faktoren, die zu Unruhe, Unaufmerksamkeit und Impulsivität führen können, nicht mit einer Schuldzuweisung gleichzusetzen. So kann eine Familie beispielsweise von schweren Schicksalsschlägen, Verlust- und Trennungserfahrungen betroffen sein, die zu ungünstigen Entwicklungsbedingungen führen. Weiterhin verlaufen Erziehungs- und Sozialisationsprozesse nur teilweise geplant - vieles spielt sich auf unbewusster Ebene ab.
Vielfältige Ursachen: Ein biopsychosoziales Modell
Beschäftigt man sich aus einer transdisziplinären Perspektive mit den ätiologischen Hintergründen von Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität, wird deutlich, dass eine Vielzahl von biopsychosozialen Faktoren diese Verhaltensweisen hervorbringen können und dass das genetische Erklärungsmodell nach wie vor auf nicht belegten Hypothesen beruht. Auch andere psychiatrische Krankheitsbilder wie Depressionen, Angststörungen, Autismus etc. werden mit hyperaktivem, scheinbar unkonzentriertem und impulsivem Verhalten assoziiert. Auf diesen Umstand reagiert die Biomedizin mit der Angabe einer hohen Komorbiditätsrate. Genau genommen zeigt sich hier aber der enorme Mangel an Spezifität der Symptome.
Betrachtet man Impulsivität, Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität nun aus psychodynamischer Perspektive, können unterschiedlichste Lebens- und Beziehungserfahrungen zu ebendiesen Symptomen führen. Bewegung wird von Gabriele Häußler und Hans Hopf (2002) als körperliches Äquivalent der Psyche beschrieben, wodurch belastende Erfahrungen und innere Konfliktdynamiken nach außen gerichtet und ausagiert werden können.
Betrachtet man Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität aus soziokultureller Perspektive, so ergibt sich eine große Vielfalt an möglichen Bedingungsfaktoren für ebendiese Verhaltensweisen. Bereits dieser kurze Überblick über mögliche Hintergründe ADHS-typischer Symptome macht deutlich, dass es nicht den einen wahren Grund für hyperaktives, unaufmerksames und impulsives Verhalten gibt, sondern eine Vielzahl möglicher Entstehungshintergründe.
Die mit der Diagnose ADHS verknüpften beruhigenden, erklärenden und entlastenden Wirkungen erweisen sich folglich als vordergründig und oberflächlich: So liefert die Einordnung in die diagnostische Kategorie keine wirklichen Erklärungen, sie vermag nichts weiter auszusagen, als dass eine Person Verhaltensweisen zeigt, die unter die Symptomkategorien Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität fallen und hier aufgrund ihrer Häufigkeitsdichte erfasst werden können. Was hinter diesen Verhaltensweisen steckt, was sie ausdrücken, worauf sie hinweisen, wird durch das Label nicht erfasst. Das heißt, es handelt sich um einen rein deskriptiven Zugang, der aber insofern überbeansprucht wird, als aus der Bündelung von bestimmten Verhaltensweisen zu einer Krankheitskategorie keine Rückschlüsse zum jeweiligen lebensgeschichtlichen Hintergrund gezogen werden können.
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ADHS im Schulalltag: Anpassung oder Pathologisierung?
Mit dem Eintritt in die Schule steigt die Diagnosehäufigkeit massiv an. Kinder, die den Vorstellungen von schulischem Wohlverhalten nicht entsprechen, laufen Gefahr, pathologisiert, mit psychiatrischen Diagnosen belegt und entsprechend medikamentös behandelt zu werden. In Astrid Lindgrens Kinderbuch „Die Kinder aus Bullerbü“ (1988) ist von Lasse die Rede, der in der Schule keine Minute richtig still sitzen konnte. Die Lehrerin bezeichnete ihn als noch nicht schulreif und schickte ihn nach Hause. Er solle im nächsten Jahr wiederkommen und erst noch ein wenig mehr spielen. Kinder müssen mit dem Eintritt in die Schule in der Lage sein, still zu sitzen und den schulischen Erwartungen zu entsprechen, ansonsten laufen sie Gefahr, medikamentös in die gewünschte Richtung gelenkt zu werden.
Unterzieht man die Verhaltensvariablen, die in gängigen Diagnosemanualen wie ICD und DSM herangezogen werden, einer genauen Betrachtung, so erscheinen viele der aufgeführten Verhaltensmuster zunächst nicht als pathologisch, sondern als typische Verhaltensweisen von Kindern und zeitweise bzw. situationsbedingt auch von Erwachsenen. Je nach Situation und Befinden haben wir alle Schwierigkeiten, länger still zu sitzen und uns zu konzentrieren, ebenso ist die Neigung, unliebsame Aufgaben aufzuschieben, durchaus sehr verbreitet.
Kommt nun eine bestimmte Anzahl von Verhaltensvariablen (zum Beispiel 6 von 9 im Bereich Unaufmerksamkeit) zusammen, und zwar in einem dem Alters- und Entwicklungsstand des Kindes nicht entsprechenden Ausmaß, so führt dies zur Diagnose ADHS. Aber wie kann trennscharf unterschieden werden, ab wann ein bestimmtes Verhalten nicht dem Alters- und Entwicklungsstand eines Kindes entspricht? Abgesehen von extremen Ausprägungen scheinen die zur Diagnosestellung notwendigen Einordnungen sehr ungenau und wiederum abhängig vom Toleranzniveau der beurteilenden Person.
Stellt man die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung nun als abgrenzbare Krankheitskategorie infrage und betrachtet das Diagnoseetikett mit entsprechender Skepsis, so eröffnet sich eine größere Palette an möglichen Hintergründen und Ursachen - dies bedeutet aber auch einen Weg ins Ungewisse. Schließlich können eine Vielzahl individueller, lebensweltlicher, biografischer, aber auch soziokultureller und gesellschaftlicher Faktoren zu Unruhe, Impulsivität und Unaufmerksamkeit führen. Damit wird der Mitteilungscharakter der Symptome in den Fokus gerückt und es gilt, den Fragen nachzugehen: Worauf weist das jeweilige unruhige, unaufmerksame und impulsive Verhalten hin? Worauf lenken die Symptome die Aufmerksamkeit? Was teilen sie der Umgebung und dem Umfeld mit? Was wird mit den Symptomen unbewusst ausgedrückt?
Der Teufelskreis der Anpassung
Ein Teil der Eltern, Lehrer:innen und Pädagog:innen scheint froh über schnelle und einfache Erklärungen von störenden, hyperaktiven Verhaltensmustern in Form einer Diagnose und dankbar für eine rasch umsetzbare Behandlungsmöglichkeit. Die medikamentöse Behandlung bietet eine schnelle, wirksame Lösung in Hinblick auf eine Linderung störender Verhaltensweisen. Kinder scheinen zu funktionieren. Es ist verständlich, dass ein hoher Leidensdruck bei Eltern und Lehrer:innen dafür sorgt, sowohl die Diagnose als auch die damit einhergehende Pathologisierung von Kindern und Jugendlichen zu akzeptieren.
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In einer beschleunigten, leistungsorientierten Gesellschaft ist insbesondere die Angst von Eltern groß, ihre Kinder könnten in der Schule nicht erfolgreich sein. Es entsteht ein Teufelskreis, ein Kind „funktioniert“ im schulischen Setting nicht, Eltern bangen um den Schulerfolg, Lehrer:innen sind überfordert und durch zu große Klassen nicht in der Lage, einzelnen Kindern die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. Dann kommt die Empfehlung - häufig seitens der Schule - eines Arztbesuchs, die oft schon mit der Vordiagnose verbunden ist: „Das Kind hat bestimmt ADHS.“ Nun wird anhand der Manuale eine Diagnose gestellt. Damit wird der Grad der Anpassung an schulische Verhaltenserwartungen zum Kriterium für Gesundheit oder Krankheit.
Die unter dem Label ADHS zusammengefassten Verhaltensweisen werden schließlich besonders im schulischen Setting prekär. An dieser Stelle drängen sich gewichtige Fragen auf: Wer muss sich an wen anpassen? Hier müsste verstärkt in den Blick genommen werden, was die Diagnose für die betroffenen Kinder und Jugendlichen bedeutet. Zunächst kann sich auch für die betroffenen Kinder und Jugendlichen eine gewisse Entlastung einstellen. Das Kind mit der Diagnose ADHS ist von Verantwortung und Schuld an seinem Verhalten, das in den unterschiedlichsten Settings stört und das Umfeld herausfordert, befreit. Es ist nicht einfach unangepasst, aufmüpfig und oppositionell, sondern krank.
Für Betroffene kann das diagnostische Etikett folglich - trotz oder sogar wegen der mangelnden differenzierten Verwendung - zur Beruhigung beitragen. Bezogen auf das Selbstbild sowie auf die Position in der Peergroup kann die Diagnose jedoch verheerenden Schaden anrichten. Betroffene Kinder und Jugendliche nehmen sich selbst als ungenügend, defizitär, anders als die anderen und nicht liebenswert wahr, insbesondere wenn sie ihre Medikamente nicht einnehmen.
Kritische Betrachtung der Diagnose ADHS
Aus erkenntnistheoretischer Perspektive ist die Aussagekraft des Etiketts sehr begrenzt. Je eingehender man sich mit ADHS beschäftigt, desto mehr verschwimmt die Bedeutung dieses Begriffs. Einerseits erscheint das Label zunehmend als Sammelbegriff für sämtliche Abweichungen von sozialen Verhaltenserwartungen, andererseits handelt es sich um eine Ausschlussdiagnose, das heißt, andere Störungen, die zu ähnlichen Symptomen führen können, müssen vor einer ADHS-Diagnose ausgeschlossen werden. Betrachtet man nun die mangelnde Spezifik der Symptome wie Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität, so scheint diese Abgrenzung äußerst schwierig. Auf das diagnostische Etikett ADHS wirken folglich gegensätzliche Kräfte ein.
Um die eingangs formulierte Fragestellung zur ADHS-Diagnose nochmal aufzugreifen: Ist sie Fluch oder Segen, Chance oder Risiko, Last oder Entlastung, Krankheit oder Mythos? Die Frage ist nicht einfach zu beantworten, sie kann alles sein. Je nach Perspektive haften an dem Begriff ADHS unterschiedlichste Bedeutungen und Implikationen. Vordergründig kann sie ein Segen, eine Chance oder eine Entlastung sein. Das Label Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung beendet gewissermaßen den Diskurs hinsichtlich der mannigfaltigen Hintergründe von Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität.
Die Diagnose ADHS hilft denjenigen, die eine schnelle und „einfache“ Erklärung für herausforderndes Verhalten bei Kindern und Jugendlichen suchen. Sie leistet insofern Hilfe, als sie die unterschiedlichsten, mehr oder weniger problematischen Verhaltensweisen zu einem Problemfeld bündelt. Betroffene und Angehörige haben das Gefühl, nicht als Einzige betroffen zu sein. Dies vermag zwar den Leidensdruck und Ängste zu reduzieren und eine gewisse Erleichterung zu schaffen, die große Gefahr besteht aber darin, die breite Pathologisierung und Medikamentierung weiter voranzutreiben.
Ob die ADHS-Diagnose hilft oder schadet, hängt davon ab, wie differenziert man sich dem Feld nähert. Je intensiver man sich mit der Diagnose ADHS auseinandersetzt, desto mehr schwindet ihre Berechtigung als klar abgrenzbare Krankheitskategorie. Zugunsten eines verstehenden Zuganges wäre zu fragen, ob es nicht an der Zeit ist, Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität als unspezifische Symptome anzuerkennen und eine damit verbundene Ungewissheit, Unklarheit und Unsicherheit zu akzeptieren.
Wege aus dem ADHS-Dilemma
Was wäre nun ein Ausweg aus dem ADHS-Dilemma? Dieses lässt sich nicht einfach so auflösen. Aufgrund der Existenz der psychiatrischen Kategorie der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung und, nicht zuletzt, deren Popularität meinen auch Laien, die entsprechenden Symptome dem Krankheitsbild zweifelsfrei zuordnen und so ADHS diagnostizieren zu können.
Ein erster Schritt aus dem Dilemma wäre die Aufklärung über die vielfältigen Hintergründe hyperaktiven, impulsiven und unaufmerksamen Verhaltens und die mangelnde Spezifik der ADHS-Symptome. Ebenso wichtig ist die Aufklärung über Stigmatisierung, Etikettierung sowie die Gefahren einer medikamentösen Behandlung. Weiterhin müssten wir uns - als Eltern, Professionelle und als Gesellschaft - Gedanken über unser Bild vom Kind machen und darüber, wie wir förderliche Bedingungen für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen schaffen.
Das bedeutet ganz konkret, unsere Erwartungen in Bezug auf gesundes kindliches Verhalten zu hinterfragen, ebenso wie das Schulsystem, das sehr stark an Anpassung und Leistung orientiert ist und wenig Raum für Individualität lässt. Nach dem Motto, wer stört, müsse eine Störung haben, geht es also verstärkt darum, das Kind an das System und nicht das System an das Kind anzupassen. Hier wäre ein Umdenken sicherlich ein wichtiger Schritt in Richtung Ausweg aus dem ADHS-Dilemma.
Abschließend sei noch einmal betont, dass die kritische Auseinandersetzung mit der Diagnose der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung und all ihren Konsequenzen das Problemfeld um ausgeprägte Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität nicht bagatellisiert.
Referenzen
- Bernfeld, S. (1973): Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung.
- Bischoff, A. (2019): Die Jungenkrankheit der Moderne? Zur Dekonstruktion von ADHS.
- Lindgren, A. (1988): Die Kinder aus Bullerbü.
- Häußler, G. & Hopf, H. (2002): Psychoanalytische Theorien. In: Bovensiepen, G., Hopf, H. & Molitor, G. (Hrsg.) (2002): Unruhige und unaufmerksame Kinder. Psychoanalyse des hyperkinetischen Syndroms.
- Türcke, C. (2012): Hyperaktiv! Kritik der Aufmerksamkeitsdefizitkultur. 2. durchgesehene Auflage. München: C. H.
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