Im letzten Jahrhundert hat sich die Anzahl von Menschen über 65 Jahren verdreifacht und die Lebenserwartung verdoppelt. Die Alterspyramide verbreitert sich immer mehr, und deshalb nimmt auch die Bedeutung der Geriatrie und der Alterspsychiatrie ständig zu.
Psychische Belastung im Alter
Es wird immer deutlicher: Chronische psychiatrische Erkrankungen sind zunehmend ein Problem des Alters; rund ein Viertel der Über-60-Jährigen hat ein psychisches Leiden. Schließlich sind Depression, Demenz & Co zwar Erkrankungen, an denen viele ältere Menschen leiden, sie sind aber keineswegs - wie fälschlich angenommen - „normale“ Begleiterscheinungen des Älterwerdens, die früher oder später jeden treffen. Feststeht allerdings, dass insbesondere Einsamkeit und Isolation vielen älteren Menschen zusetzen.
Die Schattenseite der steigenden Lebenserwartung ist eine Zunahme neurodegenerativer Erkrankungen und der Altersdepressionen. Die Prävalenz von psychischen Störungen exklusive Demenzerkrankungen beträgt bei älteren Menschen über 65 ca. 20 Prozent. Etwa ein Drittel der über 95-Jährigen weisen psychiatrische Störungen auf. Inklusive Demenzsyndrome sind ca. zwei Drittel der Altbetagten betroffen.
Häufige psychische Erkrankungen im Alter
Depressionen und Demenzen sind die häufigsten und wichtigsten psychiatrischen Erkrankungen im Alter, und ihre Ätiologie und Phänomenologie ist anders als in der Erwachsenenpsychiatrie. Die Krankheitsbilder in der gesamten Alterspsychiatrie sind nicht nur eine Extrapolation der Erwachsenenpsychiatrie.
- 17 Prozent leiden an Depressionen
- neun Prozent an Angststörungen
- sieben Prozent an psychotischen Störungen
Da die Lebenserwartung von Frauen wesentlich höher als von Männern ist und im Alter von 95 Jahren z.B. In den Bereich der Alterspsychiatrie fallen einerseits Patienten, die während ihres Erwachsenenlebens an rezidivierenden psychischen Erkrankungen, wie z.B. bipolaren affektiven Störungen oder Schizophrenien, litten und auch im Seniorenalter Rezidive entwickelten. Diese Patienten haben spezifische Bedürfnisse, und sie benötigen fachärztliche Hilfe - vor allem während ihrer Krankheitsschübe vor Ort in ihren eigenen Wohnungen oder in Heimen.
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Andererseits gibt es Patienten, die im Senium erstmals psychisch erkranken. Werden diese speziellen alterspsychiatrischen Erkrankungen nicht rechtzeitig erkannt, diagnostiziert und behandelt, kommt es meist zu einer vorzeitigen Institutionalisierung. Häufig sind die Kriterien für die Erfassung von psychiatrischen Erkrankungen nur an jüngeren Erwachsenengruppen validiert, und deren Verwendung bei Älteren wurde häufig kritisch beurteilt.
Besonderheiten der Altersdepression
Die klinische Manifestation im Alter ist bei allen psychiatrischen Erkrankungen oftmals unterschiedlich zu Erwachsenen. So überlappen sich häufig die Symptome der Depression mit körperlichen Erkrankungen, wie z.B. Appetitlosigkeit, Müdigkeit und Schlafstörungen. Dies kann sowohl zu einer Über- als auch Unterdiagnose von depressiven Symptomen beitragen. Es überwiegen die typischen Depressionssymptome, wie wir sie von der Erwachsenenpsychiatrie kennen.
Das Mortalitätsrisiko ist nach Kontrolle aller somatischen und sozioökonomischen Faktoren bei Alterspatienten auf 1,8 deutlich angehoben. Dauert die Depression über ein Jahr an, so steigt auch das Mortalitätsrisiko ganz wesentlich. Die Suizidhäufigkeit ist ebenfalls alterskorreliert, wobei 36 bis 90 Prozent laut anamnestischen Angaben an depressiven Störungen gelitten haben.
Prävalenz der Demenz
Prävalenzraten der Demenz steigen steil mit dem Alter an. Die Anzahl der Demenzen verdoppelt sich im Abstand von fünf Jahren und nimmt von leicht über einem Prozent bei den 65- bis 69-Jährigen auf ca. 40 Prozent bei den über 90-Jährigen zu. Zwei Drittel der Dementen haben bereits das 80. Lebensjahr vollendet, wobei fast 70 Prozent Frauen sind.
Für die Demenzhäufigkeit ergeben sich erfreuliche neue Daten. So zeigen sich eine stabile Prävalenz und eine sinkende Inzidenz von Demenzen in Westeuropa. In einer UK-Studie wurde eine signifikante Prävalenzreduktion um 22 Prozent (p=0,003) dokumentiert. Auch in der bekannten Framingham- Studie konnte bei einer seit 1975 laufenden longitudinalen Nachverfolgung von 5.205 über 60-jährigen Probanden eine beträchtliche Abnahme der Demenzinzidenz über drei Jahrzehnte (22 bis 44 Prozent über drei Epochen) festgestellt werden. Kardiovaskuläre Faktoren und erhöhtes Bildungsniveau waren dafür verantwortlich. Die Prävalenz nahm jedoch hier wegen der demografischen Veränderungen abgemildert zu.
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Wahrscheinlich sind die seit 20 Jahren bestehende konsequente Behandlung von kardiovaskulären Risikofaktoren und ein damit verbundener Rückgang von vaskulären zerebralen Läsionen und Schädigungen sowie höhere Bildung und günstigere Lebensbedingungen ursächlich.
Die gesundheitsökonomischen Belastungen durch Demenzerkrankungen sind hoch, wobei die Kosten weniger durch diagnostische und therapeutische Maßnahmen bedingt sind, sondern vor allem aus der institutionellen Pflege resultieren. Dies zeigt sich in einer Metaanalyse von 22 Studien. Andererseits gibt es auch einige klinische Studien, die einen derartigen Zusammenhang nicht dokumentieren konnten.
Delir und seine Bedeutung
Für die zahlreichen Demenzpatienten sind Delirien durchaus erwartbar. Aber wenn ein Delir plötzlich und unerwartet kommt, kann dieses das erste Symptom einer anderen schweren Erkrankung sein. Es ist ein Mythos, dass die Verwirrtheit zum Älterwerden dazugehört. Eine plötzliche Veränderung der kognitiven Funktionen ist immer pathologisch. Krankenpflegepersonal beschreibt die Veränderungen zumeist mit den Worten: „hat sich noch nie so agitiert verhalten, wie heute“, „muss in der Nähe des Stationsstützpunktes beobachtet werden“, „benötigt heute unbedingt etwas Beruhigendes“.
Die Unterscheidung zwischen Demenz und Delir ist für den Patienten, die Behandlung und den Verlauf ganz wesentlich. Die Symptome des Delirs werden häufig als Demenzsymptome fehlgedeutet. Aber nur 25 Prozent der deliranten Patienten leiden auch an einer Demenz. Auf allgemein somatischen Stationen ist die Delirinzidenz bei über 70-Jährigen 30 bis 50 Prozent, auf Intensivstationen 70 bis 87 Prozent.
Die Inzidenz des Delirs beträgt bei Spitalsaufnahme 14 bis 24 Prozent, während des Aufenthaltes sechs bis 56 Prozent, postoperativ 15 bis 53 Prozent und nach Hüftfrakturen sogar bis zu 65 Prozent. Delirien werden zumeist nicht erkannt (bis zu 69 Prozent) und werden häufig mit Demenzsymptomen verwechselt. Dabei wären 30 bis 40 Prozent durch rechtzeitige Risikofaktorenidentifikation und Modifikation abwendbar. Die Mortalitätsraten liegen zwischen 22 bis 76 Prozent. Die Ein-Jahres-Mortalität, die mit Delirien in Zusammenhang steht, beträgt nach Inoue (2014) 35 bis 40 Prozent.
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Diagnostik und Behandlung von Delirien
Zumeist denken wir an ein Delir, wenn Patienten agitiert, laut, halluzinierend und im Verhalten schwierig sind, wobei derartige hyperaktive Delirien vor allem bei Alkoholoder psychoaktivem Substanzentzug auftreten. Wesentlich häufiger liegen bei älteren hospitalisierten Patienten hypoaktive Delirien vor. Diese sind vor allem durch Verlangsamung, reduzierte Psychomotorik und Sprachproduktion und apathische Symptomatik gekennzeichnet. Diese beiden Delirtypen können abwechselnd auftreten. Die Symptome fluktuieren im Tagesverlauf und nehmen oft in der Nacht zu.
Das beste Screeninginstrument für Delirien ist die „Confusion Assessment Method“ (CAM) oder als Bedside-test eine einfache Aufmerksamkeitsaufgabe: z.B. die Monate des Jahres von hinten aufzählen oder von 100 jeweils sieben abziehen. Ein Delir bleibt immer eine Notfallsituation, solange bis das Gegenteil bewiesen ist. Dies Suche nach vorhandenen Ursachen ist essenziell: z.B. Eine neurologische Untersuchung dient dem Erkennen von apoplektischen Insulten oder zentralen Entzündungen. Darüber hinaus sollte noch ein EKG und eine genaue Medikamentenanamnese durchgeführt werden, vor allem im Hinblick auf anticholinerge Medikation.
Die Differenzialdiagnose, ob Depression, Demenzen oder Schmerzsyndrome vorhanden sind, ist wesentlich. Durch die ambulante Behandlung kann oftmals bei Älteren eine Hospitalisierung verhindert werden. Jede Spitalsaufnahme, freiwillig oder unfreiwillig über den Amtsarzt, hat per se ein hohes delirogenes Potenzial. Die Ursachen für ein Delir sind fast immer multifaktoriell und sprechen für eine reduzierte zerebrale Kompensationsund Anpassungsfähigkeit. Bei jüngeren nicht dementen Patienten liegt oft eine schwerere delirogene Noxe vor, die eine Hospitalisierung eher notwendig macht.
Nach einem Delir bestehen kognitive Defizite und Funktionsverluste häufig im Alltag weiter. Die Multimorbidität erhöht die Delirwahrscheinlichkeit ganz wesentlich. Präventionsstrategien sind in ca. 40 Prozent erfolgreich. Diese beginnen bereits beim Eintritt in ein Spital durch Erkennung der Delirrisikofaktoren. Hier sind vor allem Immobilität, Dehydrierung, Deprivation, Seh- oder Hörstörung zu nennen.
Die Angehörigen sollten von Anfang an mit einbezogen werden, da durch sie eine bessere Beruhigung, Reorientierung und Gedächtnisstützen mit dem Vorlegen von vertrauten Bildern gewährleistet ist und diese auch für eine genauere Medikamentenanamnese sorgen können. Für die Delirprognose ist die frühzeitige Identifikation der delirogenen Noxe und deren kausale Therapie essenziell, da die Grunderkrankung die Letalität bestimmt.
Ein Alkoholentzugsdelir sollte bei Älteren eher im Spital behandelt werden, da die Gabe von Benzodiazepinen unter Beobachtung fraktioniert erfolgen soll und zur Prophylaxe der Wernicke-Encephalopathie und des Korsakow-Syndroms zusätzlich immer 100 bis 250mg Thiamin (Vitamin B1) parenteral appliziert werden sollte. Eine genaue Medikamentenanamnese, die speziell nach Benzodiazepinen und sogenannten „Z-Substanzen“ fragt, kann die Gefahr eines „kalten“ Entzugs deutlich reduzieren.
Bei dementen Patienten muss immer die Sinnhaftigkeit von Fixierungen, Infusionen, mobilitätseinschränkenden Verbänden, Blasenkathetern, operativen Eingriffen mit Narkosen bzw.
Prävalenz und Ursachen der Altersdepression
Die Prävalenz von Depressionen bei Älteren beträgt in Querschnittstudien fünf bis zehn Prozent. Schwere Depressionen weisen ein bis fünf Prozent auf. Damit überwiegen Depressionen die Gruppen der Demenzen bei Senioren über 65 Jahren. Die Altersdepression hat eine spezifisch altersassoziierte Ätiologie: hirnorganische, psychosoziale Faktoren und kognitive Einschränkungen sind dafür relevant.
Depressive Symptome sind noch häufiger als Depressionsdiagnosen. Derartige subsyndromale Depressionen sind bereits mit erhöhten Risiken für z.B. Herzerkrankungen, Schlaganfälle und Mortalität verbunden.
Überraschend ist, dass viele Prävalenzstudien zu psychischen Störungen im Alter nicht hinsichtlich einer Demenz korrigiert sind, da Patienten aufgrund der Gedächtnisprobleme natürlich ihre Symptome in geringerem Umfang berichten, als diese tatsächlich auftreten. Außerdem schließen viele Kriterien, wie z.B. die DSM-IV-Kriterien, organische Ursache von psychiatrischen Erkrankungen, wie z.B.
Dies bedeutet, dass im höheren Alter die große Gruppe der Demenzpatienten von der Beurteilung von Angststörungen oder Depressionen ausgeschlossen wird und deren Prävalenzen wahrscheinlich noch viel höher sind. Dementsprechend dürften die geringeren Prävalenzzahlen für Depressionen und Angststörungen bei Altbetagten mit dem Phänomen der ansteigenden Demenzzahlen begründet sein. Depressionen haben oft eine organisch-biologische, Angststörungen eher einen psychogenen reaktiven Hintergrund.
Die Altersdepression schließt organisch bedingte Depressionen (ICD10: F06.32) ein. Die Kardinalsymptome einer Depression stehen nicht im Vordergrund. Eine erhöhte Klagsamkeit über körperliche und vegetative Symptome, kognitiver Leistungsverlust mit Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen, Antriebsmangel und Schlafstörungen dominieren.
Verwendet man Depressionsskalen mit vielen somatischen Symptomen anstatt emotional depressiven Symptomenskalen, so steigt die Prävalenzrate über zehn Prozent an. In Institutionen werden Prävalenzraten von über 40 Prozent erreicht. Eine Korrelation der Depression findet sich mit Mobilitätsreduktion (OR=2,9), leichter kognitiver Beeinträchtigung (OR=2,1), Visusreduktion (OR=1,7), Presbyakusis (OR=1,4) und Rauchen (OR=1,6).
Ob die körperliche Symptomatik durch die Komorbidität oder die depressive Störung begründet ist, ist schwierig zu objektivieren und stellt erfahrene Gerontopsychiater immer wieder vor große Probleme, da Quantifizierungsmöglichkeiten und Datenkorrelationen fehlen.
Altersdepressionen sind häufig assoziiert mit strukturellen Gehirnveränderungen. So wurden in Studien erhöhte Hirnventrikelparameter, veränderte Nuclei caudati und Putamen und erhöhte Atrophien frontal, temporal und im Parietallappen nachgewiesen. Die zellulären Mechanismen, die aufgrund einer Hirnatrophie zu einer Depression bei Älteren führen, sind weitgehend unbekannt. Neuronenuntergänge, Neuronenatrophien, Abnahme der dendritischen und Gliadichte sowie Zelluntergänge im frontalen Kortex als auch im Hippocampus wurden in Post-mortem-Studien dokumentiert.
Risikofaktoren und diagnostische Schwierigkeiten
Risikofaktoren für Altersdepression sind weibliches Geschlecht, negative Lebensereignisse, somatische Erkrankungen, Behinderungen, Institutionalisierung, geringe soziale Netzwerke und Unterstützungen, zerebrale organische Komponenten, wie zerebrovaskuläre Läsionen und Hirnatrophien, sowie depressiogene Medikamente. Darüber hinaus sind frühere psychiatrische Erkrankungen, positive Familienanamnese, geringer Bildungsgrad, Persönlichkeitsfaktoren, Alkohol-, Nikotinabusus sowie psychosoziale Faktoren als Risikofaktoren dokumentiert.
Die Altersdepression ist eine resignative Hingabe im Angesicht der kommenden Multimorbidität, der zahlreichen Verlusterlebnisse sozialer, körperlicher und kognitiver Natur und der Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit. Überschneidungen von Depressionen, Demenzen und deliranten Zustandsbildern bereiten auch erfahrenen Gerontopsychiatern immer wieder diagnostische und therapeutische Schwierigkeiten.
Die Merkfähigkeitsstörung bei der Depression ist vor allem beim beeinträchtigten, schwierigen Abruf aus dem Gedächtnis resultierend, während die klassischen Demenzsymptome wie Aphasie, Apraxie und Agnosie neuropsychologisch nicht objektivierbar sind. Während einer depressiven Episode finden sich häufig kognitive Mängel. Trotz Remission der depressiven Symptomatik zeigen Längsschnittstudien, dass diese weiter bestehen.
Umgang mit Einsamkeit und Verlust
„Mit der Pensionierung ist man nicht länger eingebettet ins berufliche Umfeld, auch der Lebensstil und die bisherigen Werte wandeln sich oft. In dieser Übergangsphase treten gehäuft depressive Erkrankungen auf“, ergänzt Univ. Prof. DDr. Gabriele Sachs, ärztliche Direktorin der Landesnervenklinik Wagner-Jauregg in Linz. „Rund ein Fünftel der Über-65-Jährigen leidet an Depressionen verschiedenen Schweregrads, Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer“, präzisiert Alterspsychiater Jagsch.
Bei Frauen ist das Depressionsrisiko bereits ab dem Wechsel erhöht; auch jene, die mehrfach erkrankt sind, und Hochbetagte sind häufiger depressiv. Die Betroffenen fühlen sich isoliert, freud- und perspektivenlos und ziehen sich zunehmend zurück. „Oft kommt es außerdem zu Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen“, ergänzt die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin und Psychologin Gabriele Sachs. Mitunter zieht die depressive Störung eine Schlafstörung nach sich. Gerade im Alter kann die nächtliche Ruhe aber auch aufgrund von anderen Ursachen beeinträchtigt sein.
„Schlafstörungen können isoliert oder im Rahmen einer Depression oder Angsterkrankung auftreten“, sagt Jagsch. „Auch körperliche Krankheiten wie Lungen- oder Herzerkrankungen können dahinterstecken.“ Die Folgen? „Es kann so weit kommen, dass sich der gesamte Schlaf-Wach-Rhythmus umkehrt“, betont Sachs.
Damit nicht genug: Jene, die sich ihr Leben lang über ihre beruflichen Leistungen definiert haben, erleben das Ende der Berufstätigkeit als besonders schwierig. „Wer das Selbstwertgefühl allein über den Beruf erlangt hat, gerät oft in eine schwer zu bewältigende Krise“, erklärt Gabriele Sachs. Wie wertvoll und wichtig bin ich noch? Werde ich noch respektiert? „Andere wiederum sind froh, in Pension zu gehen und aus dem Arbeitsstress aussteigen zu können“, ergänzt Christian Jagsch.
Auch unbewältigte Konflikte in der Vergangenheit können dafür verantwortlich sein, dass die Senioren nicht zur Ruhe kommen. „Es gibt Menschen, die Verschiedenes ihr Leben lang mitgeschleppt haben, das sie gern erledigt hätten“, weiß Jagsch. Viele quält zudem die Angst vor Krankheit und dem möglichen Verlust der Selbstständigkeit: Wer kümmert sich um mich, wenn ich krank werde? Werde ich gut versorgt sein? Muss ich in ein Pflegeheim gehen oder werde ich zuhause gepflegt? „Auch wird mit etwa 70, 80 Jahren vielen die Endlichkeit des Lebens zunehmend bewusst.
Sucht und Suizid im Alter
Ob aus Einsamkeit, Niedergeschlagenheit oder Angst: Immer mehr Senioren greifen zu Suchtmitteln - jeder zehnte Über-60-Jährige hat ein Suchtproblem. „Es wird versucht, auftauchende Krisen mit vermehrtem Alkoholkonsum oder anderen Substanzen zu bewältigen“, weiß Sachs. Im schlimmsten Fall sehen die Betroffenen keinen Ausweg aus der psychischen Misere, bei Männern steigt im Alter die Suizidrate an.
Prävention und Bewältigungsstrategien
Wer geistig und körperlich aktiv bleibt, stärkt damit letztlich auch die Psyche. Ob beim Wandern, Nordic Walking oder Schwimmen: „Körperliche Bewegung und Training wirken beispielsweise Depressionen entgegen“, betont der Grazer Alterspsychiater Prim. Dr. Christian Jagsch. Wer außerdem rege und neugierig bleibt und sich seinen Sinn für Humor bewahrt, beugt z. B. Selbstwertproblemen vor. „Jeder einzelne sollte für sich überprüfen: Wo kann ich für mich sinnvoll aktiv sein? Wo ist für mich Sinnfindung möglich?“, regt die Psychiaterin und Psychotherapeutin Univ. Prof. DDr. Gabriele Sachs an.
Ein besonders wirksamer Schutz vor Vereinsamung, Isolation und Depression „sind gute soziale Beziehungen“, so Jagsch. Wer es nicht geschafft hat, sich in jüngeren Jahren ein tragfähiges soziales Netz aufzubauen, kann auch in der Pension eine Gemeinschaft Gleichgesinnter finden. Wer nicht gegen die innere Uhr, sondern im Einklang mit dem Schlaf-Wach-Rhythmus lebt, beugt Schlafstörungen vor. „Wir haben einen ganz natürlichen biologischen Schlaf-Wach-Rhythmus: Vor Mitternacht wird Melatonin ausgeschüttet und man wird müde“, erklärt die Psychiaterin Sachs. „In der Früh wiederum wird Cortisol ausgeschüttet.
Über den günstigen Einfluss einer ausgewogenen Kost auf das psychische Wohlergehen weiß die medizinische Forschung immer besser Bescheid. „Gesunde Ernährung stellt zum Beispiel sicher, dass Blutdruck sowie Blutzucker gut eingestellt sind“, betont der Mediziner Jagsch. „Kommt es hingegen zur Entgleisung des Blutzuckerspiegels oder zu Bluthochdruck, so steigt das Risiko für Depressionen.“ Regelmäßig auf den Speisezettel gehören z. B.
Professionelle Hilfe in Anspruch nehmen
„Wenn Sinnlosigkeitsgefühle oder schwerwiegende Schlafstörungen auftreten, sollte man eine Behandlung bei einem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin in Erwägung ziehen“, rät Gabriele Sachs. „Psychotherapie kann dabei helfen, das Leben umzustrukturieren und einen neuen Sinn darin zu finden. Und sie kann bei der Auseinandersetzung mit der Endlichkeit unseres Lebens und der Angst vor dem Tod unterstützen.“ Die jüngeren Senioren haben vielfach ohnehin gelernt, sich bei Bedarf professionelle Unterstützung zu holen.