Long COVID: Eine Herausforderung für die psychiatrische Ambulanz der Uniklinik Ulm

Long COVID ist ein Thema, das derzeit viel diskutiert wird, aber noch viele Fragen aufwirft. Fast täglich gibt es neue Erkenntnisse, aber Betroffene können nicht warten, bis alle Unklarheiten beseitigt sind. Es scheint erforderlich, Long COVID als chronische Erkrankung anzuerkennen.

Laut Definition der Schweizer Ärztenetzwerk-Verbindung Medix kann ein akuter COVID-19-Infekt vier Wochen dauern, ein prolongierter Infekt vier bis zwölf Wochen. Wenn Beschwerden, die nicht durch eine andere Diagnose erklärt werden können, länger als zwölf Wochen anhalten, wird ein Post-COVID-19-Syndrom diagnostiziert. Das britische National Institute for Health and Care Excellence (NICE) definiert Long COVID als eine Vielzahl von Symptomen, die länger als 12 Wochen andauern, wobei einige bereits Symptome ab acht Wochen als Long COVID betrachten.

Eine allgemein gültige Begriffsklärung steht noch aus. Auch der Prozentsatz der Betroffenen variiert stark, wobei 10 Prozent zumeist als Untergrenze gelten. Laut aktueller Literatur leiden je nach Zeitpunkt zwischen 10 und 60 Prozent (oder mehr) der vormaligen COVID-19-Patienten*innen an Folgeschäden einer stattgehabten COVID-19-Erkrankung.

Wie stark selbst zuvor nur leicht Erkrankte an Long COVID leiden können, dokumentiert eine Ende Mai präsentierte Studie der Uniklinik Köln, die im Juli in The Lancet Regional Health - Europe erschienen ist. Für diese Studie wurden 958 Patient*innen befragt, von denen 442 bzw. 352 über vier/sieben Monate hinweg begleitet wurden. Dabei wurden die vier häufigsten Langzeit-Auswirkungen einer COVID-19-Infektion festgestellt: Atembeschwerden wie Kurzatmigkeit, Anosmie, Ageusie und Fatigue. Bei allen vier Symptomen lag der Prozentsatz der Betroffenen vier Monate nach ihrer Akutinfektion bei jeweils rund zehn Prozent.

Die bekanntesten Symptome dabei sind ausgeprägte Erschöpfung, Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Schwäche, Gedächtnisstörungen, Luftnot, Brustschmerzen, Herzrasen, Husten, Geruchs- und Geschmacksverlust, Kreislaufschwäche, Schlafstörungen, und Depressionen. Die Langzeitfolgen können schwerste Organschäden von Lunge, Herz, Leber, Niere und dem zentralen Nervensystem umfassen.

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Am Universitätsklinikum Ulm ist die Long-COVID-Ambulanz an die sportmedizinische Ambulanz der Sektion Sport- und Rehabilitationsmedizin gekoppelt. „Wir betreuen primär Sportler, aber auch andere Patienten“, betont der Ärztliche Leiter der Sektion, Jürgen Steinacker. „Allerdings übernehmen wir ausschließlich Patienten mit Long COVID, die in ihrer Akutphase nicht künstlich beatmet wurden.“

Persistierende Müdigkeit und depressive Verstimmung, so Steinacker, seien bereits von anderen Viruserkrankungen bekannt. „Nach einer COVID-19-Erkrankung jedoch treten diese Symptome viel häufiger, stärker und über einen längeren Zeitraum hinweg auf.“ Long COVID nimmt Steinacker als „Multiorgansystem-Problem“ wahr, mit vermutlich unkontrollierten Entzündungen in diversen Organen und einer möglichen Dysfunktion der Makrophagen.

Long COVID sei eher zu komplex, um von Allgemeinmediziner*innen behandelt zu werden - es brauche die Infrastruktur für eine umfassende Diagnostik. Seine Ambulanz verfügt über ein breites internistisches Spektrum und ein gut aufgestelltes Labor; daneben pflegt er eine enge Kooperation mit Radiologen, Neurologen und Psychologen. Den Einsatz von Psychopharmaka oder Schlafmitteln als rein symptomorientierte Behandlungsstrategie sieht er kritisch, betont aber, dass noch viel Expertise dazu gesammelt werden müsse.

„Psychologische Elemente sind sehr wichtig“, betont er. Aber auch: „Man wird mit den Symptomen schnell ins psychische Eck gestellt. Ich glaube, wir werden da noch viel lernen müssen.“ Wenn sich eine 22-jährige Sportlerin nach zehn Minuten Gehen vor Überanstrengung ins Bett legen muss, „sind wir gezwungen, uns mit dieser Realität auseinanderzusetzen“.

Zur langfristigen Versorgung von Long-COVID-Patient*innen würde Steinacker eine ambulante Reha mit multimodalem Training bevorzugen, die neben regelmäßigen medizinischen Checks, Laboruntersuchungen, psychologischen Gesprächen und einem medikamentösen Konzept auch Übungseinheiten zu Hause umfassen sollte. „Ich persönlich halte ambulante Maßnahmen wegen dem langen Verlauf von Long COVID für wichtiger und geeigneter als stationäre Rehabilitation.

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Auch im nördlichen Nachbarland Österreichs bilden sich gerade - meist on top auf Bestehendes - neue Versorgungsstrukturen heraus. Am Universitätsklinikum Essen, das neben der Berliner Charité deutschlandweit am meisten COVID-19-Akutpatient*innen betreut hat, wurden zur Nachsorge und zur Versorgung der Long-COVID-Patient*innen sowohl an der Klinik für Neurologie als auch an der Klinik für Infektiologie jeweils eine Spezialambulanz eingerichtet.

Christoph Kleinschnitz, Leiter der neurologischen Klinik, verweist jedoch auf die Durchlässigkeit der beiden Ambulanzen und betont die interdisziplinäre Vernetzung innerhalb des gesamten Klinikums: „Zu einem guten Long-COVID-Netzwerk gehören unbedingt Infektiologen, Virologen, Pneumologen, Neurologen und Experten in Psychosomatik. In einigen Fällen ist auch eine kardiologische oder nephrologische Expertise gefragt.“

Kleinschnitz analysiert gerade die Daten seiner ersten Publikation zu Long COVID (über die akute Infektion hat er mehrfach publiziert), in die 100 Patient*innen mit ausgeprägten neurologischen Symptomen integriert wurden. Bei den beobachteten Symptomen handelt es sich meist um Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen, Wortfindungsstörungen, Fatigue und chronischen Kopfschmerz. „Immer wieder kommt es auch zu Überlappungen mit psychiatrischen Diagnosen wie Angststörungen oder Depressionen.“

Aufgrund der erforderlichen interdisziplinären Strukturen und der notwendigen Diagnostikmöglichkeiten von der Kernspintomographie bis zur Untersuchung von Nervenwasser sieht er als optimale Standorte für Long-COVID-Ambulanzen ausschließlich die Universitätskliniken, die auch für die entsprechende wissenschaftliche Begleitung sorgen können. Die zweimal wöchentlich stattfindende Spezialsprechstunde an seiner Klinik ist auf zwei Monate im Voraus ausgebucht, die Nachfrage enorm. „Die Beschwerden können durchaus ein halbes Jahr oder darüber hinaus andauern“, erklärt Kleinschnitz.

Die bereits zuvor etablierte Sprechstunde für Chronische Fatigue der Immundefektambulanz des Instituts für Medizinische Immunologie an der Berliner Charité wurde in den vergangenen Monaten zur stark frequentierten Anlaufstelle für Menschen mit Long COVID, die unter Fatigue leiden. An der Spezialambulanz aufgenommen werden können - trotz zusätzlich eingerichteter Sprechstunde - nur Betroffene, die sechs Monate nach der Akutinfektion noch unter Chronischer Fatigue leiden.

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„Zum einen, weil wir die Erfahrung gemacht haben, dass die Erschöpfung, die viele am meisten quält, drei bis sechs Monate nach der akuten Infektion in vielen Fällen von selbst aufhört. Zum anderen aber auch einfach, weil die Warteliste inzwischen so lang ist“, erklärt Scheibenbogen. In ihrer Ambulanz trifft sie auf zusätzliche Symptomatik wie brain fog oder Störungen des autonomen Nervensystems.

Derzeit werden gerade Daten einer großen epidemiologischen Studie ausgewertet, die Informationen darüber liefern sollen, wie häufig eine Corona-Infektion in ein CFS mündet. „Ich schätze, dass etwa ein bis zwei Prozent der positiv Getesteten anschließend ein CFS entwickeln. Das klingt nicht viel, aber wenn man es hochrechnet, erwarte ich in Deutschland Zehntausende chronisch kranke Menschen im besten Alter“, so Scheibenbogen.

Eine gezielte Therapie gibt es noch nicht. Scheibenbogen behandelt die Symptome wie Schlafstörungen und Schmerzen, fokussiert auf die Selbstkompetenzen der Betroffenen, aber auch auf Entspannung und konsequente Reduktion vermeidbarer Stressfaktoren. Mittels Aktivitätstrackern können die Patient*innen nachverfolgen, wie viel Zeit sie in welchem Aktivitätsgrad verbracht haben und wie sich ihr Puls dabei entwickelt hat. Das Ziel ist, selbst abschätzen zu lernen, was zumutbar ist.

Wie auch bei Chronischer Fatigue nach Infektionen mit dem Epstein-Barr-Virus vermutet Scheibenbogen, dass die Heilungschancen der Jüngeren besser sind. Von ihnen, so ihre Erfahrung, werden zwei Drittel wieder gesund. Allerdings manchmal erst nach Jahren.

Als am 16. März 2020 die Nordseeinsel Föhr für Nichtbewohner*innen komplett geschlossen wurde, stand die Nordseeklinik Westfalen, spezialisiert auf Rehabilitation bei Lungenerkrankungen, vor einem Problem: Es durfte zwar gearbeitet werden, aber kein Kurgast mehr anreisen. Mit dem Verlauf der Pandemie lernte das Team der Rehaklinik dazu und erarbeitete neben dem Fokus auf die Lunge vor allem auch psychologische Unterstützung wie Resilienztraining und ein Übungsprogramm für den olfaktorisch-gustatorischen Bereich.

Noch bevor es das Wort „Long COVID“ gab, kamen die ersten Betroffenen ins Haus, rund 70 Prozent mit Riech- und Schmeckstörungen. Deshalb wurde das Programm, das heute unter der Marke CORONACH® praktiziert wird, entsprechend erweitert.

In einem Punkt unterscheiden sich die Long-COVID-Patient*innen von Asthma- und COPD-Patient*innen: „Wer mit Asthma oder COPD zu uns kommt, hat sich meist jahrelang mit seiner Erkrankung beschäftigt und lebt mit seinen Einschränkungen. Die Menschen mit Long COVID hingegen haben mitten im Leben eine Vollbremsung erfahren. Die überfordern sich gerne selbst.

Gemeinsam mit der Universitätsklinik Lübeck beobachtet seine Klinik auch die Nachhaltigkeit von CORONACH®. Jede/r einzelne Patient*in wird noch sechs Wochen nach Abschluss der Reha weiterbetreut, führt ihr/sein Erfolgstagebuch und kann sich in Krisensituationen an die Klinik wenden. Eine Sortierung nach Symptomatik in pneumologische, neurologische und psychosomatische Rehabilitation hält Jochheim für wichtig und betont, dass sein Programm sich speziell an Menschen mit Lungenproblemen richtet.

Last but not least bleibt zu erwähnen, dass die deutsche Bundesforschungsministerin Anja Karliczek Ende Mai bekanntgegeben hat, Forschungsvorhaben zum Thema COVID-19-Spätsymptome mit rund fünf Millionen Euro zu fördern. Das Geld soll dabei helfen, die Ursachen wie Therapiemöglichkeiten für Long COVID zu erforschen und den weiteren Forschungsbedarf auszuloten.

Der Dialog ist das Um und Auf in der Betreuung von Menschen mit Long COVID: Betroffene wissen am besten über ihr Erleben Bescheid, Ärztinnen und Ärzte sind die Expert*innen für die einzelnen Symptome.

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