Suizidalität wird im Sinne klinischer Diagnostik nicht als eigenständige psychische Erkrankung betrachtet, sondern beschreibt einen Symptomkomplex, welcher zwar mit psychischen Erkrankungen einhergehen, aber auch als Folge schwieriger Lebensumstände ohne psychiatrische Diagnosestellung auftreten kann.
Die in Österreich, Deutschland und der Schweiz gebräuchlichen Modelle zu Suizidrisikofaktoren unterscheiden sich in der Wortwahl, bilden aber übereinstimmende Faktoren ab.
Umgang mit Suizidalität in Kliniken
Vorliegender Artikel beschreibt den Phänomenbereich Suizidalität, zeigt den Umgang mit suizidalen Patient:innen im Klinikalltag der Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel auf und beleuchtet das mögliche Selbsterleben suizidaler Patient:innen.
Das Behandlungsangebot der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel (UPK Basel) umfasst die stationäre, teilstationäre und ambulante psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung aller Störungsbilder der Kategorien F00 bis F99 aus der ICD-10 (Kapitel 6 in der ICD-111).
Diagnostik und Behandlung unterliegen den Paradigmen der Multiperspektivität, der Orientierung am bio-psycho-sozialen Ansatz sowie psychotherapeutisch orientiertem Denken und Handeln (vgl. SGPP - Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie 2022).
Lesen Sie auch: Inspiration für psychologische Bachelorarbeiten
Die UPK Basel haben sich dem Konzept der »Innovativen Psychiatrie mit offenen Türen« (Lang 2013) verschrieben.
Dies bedeutet, dass Isolationen und Zwangsmaßnahmen nur in Ausnahmefällen und im absoluten Notfall, z. B. bei akuter Fremdgefährdung oder akuter Autoaggression ohne Absprachefähigkeit, vorgenommen werden.
Stadien der Suizidalen Entwicklung
Schneider (2000) beschreibt drei Stadien der suizidalen Entwicklung, die mit der Erwägung beginnt, über einen inneren Kampf zwischen selbsterhaltenden und selbstzerstörenden Kräften in einen möglichen Appell (»das Reden von Selbstmord, leise Andeutungen in dieser Richtung, […] Drohungen und Voraussagen«) mündet und im letzten Stadium zur Entscheidung führt.
Er betont die Wichtigkeit, die Appelle des zweiten Stadiums nicht zu überhören und weist darauf hin, dass der Entschluss zu einem Suizid im dritten Stadium häufig zu einer Beruhigung und Entspannung (»Ruhe vor dem Sturm«) führt, die der Umwelt auffällt und eine große Gefahr der Fehlinterpretation in sich birgt.
Relativ häufig erkennen Patient:innen mit dem Auftreten von Lebensüberdruss-Gedanken, Todeswünschen oder suizidalen Impulsen, dass sie professioneller Hilfe bedürfen.
Lesen Sie auch: Umgang mit Unfalltrauma
Neben der freiwilligen Selbsteinweisung oder der Motivation für einen Klinikaufenthalt durch Angehörige, Mediziner:innen oder Therapeut:innen erfolgt eine Klinikeinweisung häufig in Folge einer behördlichen Anordnung aufgrund von Eigengefährdung bzw. eines erfolgten Suizidversuchs oder als Überweisung aus Akut- oder Rehabilitations-Kliniken nach erfolgtem Suizidversuch (mit oder ohne behördliche Verfügung).
Diese wird in der der Schweiz als »Fürsorgerische Unterbringung« bezeichnet und vom Amtsarzt/von der Amtsärztin angeordnet.
Den Patient:innen steht ein Widerrufsrecht zu, welches sie zeitnah zur Geltung bringen können.
Hier handelt es sich um Zwangsmaßnahmen, deren Wirkung auf das Integritätsgefühl der Klient:innen nicht unterschätzt werden darf.
Sowohl formeller als auch informeller Zwang können die therapeutische Beziehung belasten und zu aggressivem Verhalten führen (vgl. Ziltener et al. 2020).
Lesen Sie auch: Psychologische Psychotherapie: Ein Methodenüberblick (Wolf)
Die Diagnostik der Suizidalität liegt im Aufgabenbereich der Ärzt:innen und ist manualgeleitet.
Treffen die mit * gekennzeichneten Punkte zu, bedeutet dies in der Regel akute Suizidalität.
In diesen Fällen bedarf es einer 1:1-Betreuung.
Wichtige Aspekte bei der Erkennung von Suizidalität
- Es ist zu berücksichtigen, dass das Erkennen von Suizidalität mit einer großen Irrtumswahrscheinlichkeit behaftet ist, da unter anderem Bagatellisierungs- und Verleugnungstendenzen der Patient:innen das Erkennen einer akuten suizidalen Gefährdung verhindern können.
- Vor allem Patient:innen mit Störungen auf Strukturniveau (Persönlichkeitsstörungen) berichten in von ihnen nicht (oder kaum) als ›Kontrollinstanz‹ wahrgenommenen therapeutischen Settings (z. B. Musiktherapie, Kunsttherapie etc.) häufig über persistierende Suizidgedanken, welche sie aus Angst vor Zwangsmaßnahmen oder aus Schuld- oder Schamgefühlen dem Behandlungsteam verschweigen.
- Die Frage »Darf ich Ihnen ein Geheimnis anvertrauen?« muss also stets dahingehend beantwortet werden, dass Suizidgedanken als Geheimnis nicht akzeptabel sind.
Im Anschluss an die Diagnostik wird das notwendige Vorgehen im klinischen Setting durch das Behandlungsteam der betreffenden Abteilung festgelegt.
Sicherheit im Umgang mit suizidalen Patient:innen erhalten Pflegefachpersonen in klinikinternen bzw. abteilungsspezifischen Schulungen (Putrino Trefiletti 2018).
Das Vorgehen ist hierarchisch gegliedert, d. h. Im stationären Rahmen arbeiten somit meistens ein Mehrfaches an Experten mit dem Patienten.
Der Vorteil besteht im Wesentlichen darin, daß sich der Patient im Einzelgespräch mit dem Arzt, in der Gruppentherapie oder im Einzelgespräch mit einem Mitglied des Pflegeteams von ganz verschiedenen Seiten darstellt.
Dies bietet die Möglichkeit, ein vollständigeres, der komplexen Wirklichkeit eher entsprechendes Bild und Verständnis des Patienten zu gewinnen.
Die Non-Suizid-Versprechen (Punkt 2) gelten jeweils für ein mit den Patient:innen vereinbartes Zeitfenster.
Die Intervalle und Modi für den Sichtkontakt (Punkt 3) folgen den Absprachen mit den Betroffenen.
Die Kontaktaufnahme kann sowohl von Seiten der Pflegefachpersonen als auch von Seiten der Patient:innen erfolgen.
Die Anwesenheit einer Sitzwache im Rahmen der 1:1-Betreuung (Punkt 4) bedeutet nicht, dass die Bewegungsfreiheit der Patient:innen absolut eingeschränkt wird.
Spaziergänge auf dem Areal, der Gang zu Therapien oder auch Besorgungen in der eigenen Wohnung können durch die Sitzwache begleitet werden.
Im weiteren Verlauf des stationären Aufenthalts und mit dem Aufheben der 1:1-Betreuung und der Sichtkontakte werden Ausgangsmodalitäten (Areal nach Absprache, extern nach Absprache etc.) mit zugehöriger Karenzzeit für eine allfällige polizeiliche Fahndung festgelegt.
Auch wenn Prävention, Diagnostik und Behandlung von Suizidalität evidenten Manualen folgen, dient die Konzeptionierung der Behandlung suizidaler Klientel in erster Linie der Verhinderung eines Suizids sowie dem Aufrechterhalten der Handlungsfähigkeit der Behandlungsteams.
Die Betroffenen selbst bleiben aber weiterhin mit ihrem schwierigen Selbsterleben konfrontiert.
Suizidale Menschen befinden sich meist in einer Krise, in der sie Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Selbsthass und andere schmerzhafte Gefühle erleben, die sie keinen Ausweg in ihrer Situation mehr erkennen lassen.
Diese Krise kann sich so zuspitzen, dass […] das Leben unerträglich ist und der Suizid als einzige Lösung, um nicht zu sagen »Erlösung«, erscheint.
[…] Das Nicht-Ertragen-Können des Seelenschmerzes ist dabei der maßgebliche Faktor, der letztlich zur suizidalen Handlung führt.
Musiktherapie als Intervention bei Suizidalität
Ausnahmen können eine aufsuchende Musiktherapie während der 1:1-Betreuung sein oder, falls Musik als bestehende Ressource bekannt ist bzw. Die 1:1-Betreuung stellt eine sehr personalintensive Intervention dar, welche die Pflegeteams der Abteilungen große Anstrengung kostet.
Auch wenn externes Pflegepersonal als Sitzwache rekrutiert wird, müssen diese Personen von Zeit zu Zeit für eine Pause abgelöst werden.
Um das betreffende Team in solch einer Situation zu unterstützen, und wenn die eigenen (zeitlichen) Ressourcen ausreichen, kann eine erste Kontaktaufnahme schon im Patientenzimmer stattfinden.
Es empfiehlt sich, eine kleine Auswahl an Instrumenten (z. B. Trommel, Spieluhr, Sansula, Kantele etc.) mitzuführen.
Beim Betreten des Zimmers wird man häufig von einer buchstäblichen Grabesstimmung empfangen.
Die Atmosphäre ist oft geprägt von Dunkelheit und großem Leid.
Ausdünstungen bzw. Gerüche, verursacht durch die Pharmakotherapie, hängen in der Luft und die Aktivitäten des Pflege- oder Hauspersonals erscheinen seltsam unpassend.
Die Patient:innen wirken oft teilnahmslos oder genervt - es ist davon auszugehen, dass ein musiktherapeutisches Angebot zu diesem Zeitpunkt nicht freudig willkommen geheißen wird.
Häufig bleibt es beim Gespräch.
Manchmal berichten Patient:innen über ihre musikalische Sozialisation oder was ihnen Musik in ›besseren Zeiten‹ bedeutete.
Manche Patient:innen empfinden es als entlastend, über ihre aktuelle Situation oder den Suizidversuch zu sprechen, andere lassen sich dazu hinreißen, das mitgebrachte Instrumentarium einmal zu begutachten.
Erklingt ein Ton in beschriebener Atmosphäre, kann dieser den Effekt einer frischen Brise oder eines Lichtstrahls entfalten.
Wichtig ist, nicht zu viel zu erwarten und die Patient:innen nicht zu bedrängen.
Das Hauptziel liegt in der Kontaktaufnahme und im Signalisieren der Bereitschaft, die Schwere des Leidens gemeinsam auszuhalten.
Ist ein starker biographischer Bezug zur Musik gegeben, werden Patient:innen von Zeit zu Zeit dazu aufgefordert, gemeinsam mit der Sitzwache die Musiktherapie aufzusuchen (die Sitzwache nimmt nicht an der Therapie teil).
Dies stellt einerseits eine Gelegenheit dar, die bedrückende Atmosphäre des Zimmers zu verlassen und andererseits konfrontiert es die Patient:innen mit ihrem Unvermögen, am Leben teilzuhaben, da frische Luft oder Sonnenschein evtl. nicht mit ihrem Selbsterleben korrespondieren.
In der Musiktherapie angekommen, verbleiben manche Patient:innen auch in dieser Situation teilnahmslos, andere können sich dem Appellcharakter des Instrumentariums nicht entziehen und beginnen damit, sich die Instrumente anzusehen und vereinzelt etwas erklingen zu lassen.
tags: #psychologische #beratung #bielefeld #notfall