Psychische bzw. emotionale Beeinträchtigungen, die nach (extrem) belastenden Ereignissen oder einschneidenden Veränderungen im Leben eines Menschen auftreten (z.B. Erkrankung, Todesfall, Trennungen, Konflikte, Elternschaft etc.), werden als Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen bezeichnet.
Diese Situationen können krankheitsauslösend sein, wenn sie von den Betroffenen nicht adäquat verarbeitet werden. Nicht jede Trauerphase oder verzweifelte Reaktion z.B. nach einem Verkehrsunfall ist als „krankhaft“ einzustufen, denn sie gehören meist zur normalen Bewältigung.
Problematisch wird es erst, wenn der Betroffene beispielsweise seinen Alltag nicht mehr bewältigen kann bzw. hierfür eine große Kraftanstrengung erforderlich ist, er einen Großteil der Tageszeit mit Gedanken an die Situation verbringt oder problematische Verhaltensveränderungen auftreten (z.B. Aggressivität, Gereiztheit, Suizidalität).
Unter dem Sammelbegriff „Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen“ werden nach ICD-10 im Wesentlichen drei Krankheitsbilder zusammengefasst.
Anpassungsstörung
Einer Anpassungsstörung liegt eine identifizierbare psychosoziale Belastung (z.B. Tod des Partners, Trennung, schwere Erkrankung, Arbeitslosigkeit, Konflikt am Arbeitsplatz, Geburt eines Kindes) zugrunde, die kein außergewöhnliches oder katastrophales Ausmaß hat, aber eine entscheidende Lebensveränderung mit sich bringt.
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Aufgrund des Ereignisses bzw. der veränderten Lebensumstände entwickeln sich emotionale und soziale Beeinträchtigungen, die zu einem deutlichen Leidensdruck führen.
Akute Belastungsreaktion
Eine akute Belastungsreaktion kann nach einer außergewöhnlichen körperlichen oder seelischen Belastung auftreten, z.B. nach einer Naturkatastrophe, nach Unfall oder Vergewaltigung. Eine akute Belastungsreaktion tritt meist wenige Minuten nach der akuten Belastung auf.
Ohne das schreckliche Erlebnis würden die Betroffenen das psychische Gleichgewicht nicht verlieren. Die akute Belastungsreaktion klingt in der Regel innerhalb von Stunden oder Tagen ab oder hält zumindest nicht länger als einen Monat an.
Symptome umfassen:
- Bewusstseinseinengung
- Desorientiertheit und Aufmerksamkeitsdefizit
- Der Betroffene ist wie betäubt
- Körperliche Symptome z.B. Herzrasen, Schwitzen, Zittern
Bei adäquater Behandlung ist die Prognose günstig.
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Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) kann als eine verzögerte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß auftreten. Diese auslösenden Erlebnisse (Traumata) vermögen objektiv nahezu jeden Menschen psychisch zu beeinträchtigen, wie z.B. schwere Unfälle, Gewaltverbrechen, Naturkatastrophen oder Kriegshandlungen.
Eine bedeutsame Grundrate an zivilen wie familiären Gewalterfahrungen hat zunehmend auch westliche Gesellschaften für traumatische Erfahrungen und Trauma-Folgestörungen sensibilisiert. Die globalisierte Dimension von Krieg, Folter, Genozid, Natur- und Hungerkatastrophen mit einer seit mehreren Jahren nun auch europäische Staaten erreichenden Massenmigration hat noch dazu beigetragen, dass traumatische Ereignisse und ihre Gesundheitsfolgen im öffentlichen Bewusstsein zentral beachtet werden.
Die moderne westliche Sicht auf Traumatisierungen und ihre gesundheitlichen Konsequenzen haben sich vorrangig auf die Dimension des individuellen Leidens konzentriert und wichtige soziokulturelle Kontexte weitgehend ausgeblendet. Auch gerieten menschliche Krisen und Katastrophen immer stärker in eine exklusive Zuständigkeit der Medizin, insbesondere von Psychiatrie und Psychotherapie.
In einer transkulturellen Perspektive wurde an dieser einseitigen Konzeptualisierung mehrfache Kritik geäußert.
Trauma beschreibt allgemein ein äußeres Ereignis, das für die große Mehrheit einer Bevölkerung das Gefühl einer überwältigenden Bedrohung vermittelt. In der neuen Version von DSM-5 werden im Trauma-Kriterium extreme und nicht nur schwerwiegende Stresserfahrungen verlangt.
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Das noch in DSM-IV-TR zusätzlich geforderte subjektive Kriterium einer traumatischen Erschütterung mit Todesangst, Panik, Ohnmacht und Hilflosigkeit wurde hingegen aufgegeben, da sich epidemiologisch keine prospektive Bedeutung für ein erhöhtes Risiko einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) bestätigen ließ.
Im besonderen Fokus auf akute dissoziative Symptome sollten zudem Personen mit einem erhöhten PTBS-Risiko früh identifiziert werden. Dieses ABS-Konzept war imstande, eine solche Risikogruppe reliabel zu beschreiben. Es war nicht aber ausreichend sensitiv, die Gesamtgruppe der nach einem Trauma auftretenden Fälle von PTBS zu erfassen.
DSM-5 gibt die vormals strikte Forderung von gleichzeitig nachzuweisenden Symptomen je aus den drei PTBS-Clustern von Intrusion, Vermeidung und autonomem Hyperarousal sowie einem eigenen dissoziativen Cluster zugunsten einer freien Kombinierbarkeit der aufgelisteten Symptome auf. Es setzt aber eine hohe Symptomschwelle (≥9 aus 14) für die Diagnose an.
Symptomkomplexe der PTBS
Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) zeichnete sich bis zu DSM-IV-TR und im Wesentlichen auch im ICD-10 durch drei Symptomkomplexe aus:
- Intrusiv auftretende Erinnerungen an das Trauma
- Eine systematische Vermeidung aller Trauma-bezogenen Aspekte
- Zahlreiche körperliche und kognitive Symptome einer autonom-nervösen Überaktivität
In DSM-5 wird das klinische Bild einer PTBS erstmals sehr viel breiter beschrieben. Es werden nunmehr auch negative Veränderungen in Kognitionen und Stimmungen in unmittelbarer Assoziation mit dem Trauma eigenständig abgebildet.
DSM-5 führt explizit auch die Kodierung eines „verspäteten Beginns“ auf und es definiert ferner die separate Spezifizierung eines „dissoziativen Subtypus“ mit prominenten Symptomen einer Depersonalisation und Derealisation.
Die breite Konzeptualisierung der PTBS in DSM-5 hat letztlich dazu geführt, dass kein eigenständiger diagnostischer Status einer „komplexen PTBS“ in die Störungsgruppe aufgenommen worden ist.
Unter einer komplexen PTBS wird klinisch ein breiter Symptomenkomplex beschrieben, bei dem die Kriterien einer PTBS sehr häufig gleichzeitig erfüllt sind. Es imponieren aber vor allem Symptome einer affektiven Dysregulation, eines chronischen selbstdestruktiven Verhaltens, dissoziative und somatoforme Symptome sowie pathologisch veränderte Selbstkonzepte und Beziehungsstile infolge von schwerwiegenden Traumata speziell während der frühen Entwicklungsjahre.
Auch eine anhaltende Trauerstörung mit einer über viele Monate, weit über die soziale und kulturelle Norm hinaus anhaltenden Trauer nach dem Tod einer geliebten Person wurde zunächst als eigenständiger diagnostischer Status zwischen Anpassungs- und Trauma-bezogenen Störungen diskutiert.
DSM-5 nimmt diesem diagnostischen Konzept gegenüber vorläufig eine zuwartende Position ein und betont eine notwendige weitere empirische Überprüfung.
Das amerikanische DSM-5 und die demnächst publizierte ICD-11 der WHO werden in Zukunft recht unterschiedliche konzeptuelle Wege in der Diagnose von Trauma- und Stressor-bezogenen Störungen beschreiten, die einen möglichen Einfluss auf die epidemiologische Kennziffern weltweit haben werden.
Im ICD-11 wird sich die Diagnose einer PTBS einerseits auf ein sehr allgemein gehaltenes Trauma-A-Kriterium („an extremely threatening or horrific event“) stützen, andererseits eine relativ enge, als spezifisch erachtete klinische Phänomenologie definieren. Die neue Diagnose einer komplexen PTBS wird drei spezielle intra- und interpersonale Symptom-Cluster zusätzlich zu den PTBS-Kernsymptomen beinhalten.
Als weitere Diagnose wird eine anhaltende Trauerstörung aufgeführt sein. Die Diagnose der Anpassungsstörung wird durch Anlehnung an das psychologische PTBS-Modell von Intrusion und Vermeidung eine wesentlich stärkere Spezifizierung der Symptome zeigen.
In einer für weitere Forschung offenen Kategorie „akuter Stressreaktionen“ sollen vorübergehende intensive emotionale, kognitive und behaviorale Reaktionen nach einem Trauma notiert werden, die hinsichtlich der extremen Schwere des Stressors aber als normative Belastungsreaktionen konzipiert sein sollen.
Epidemiologische Perspektive
In einer epidemiologischen Perspektive stellen PTBS und ABS prototypische Reaktionstypen dar. Nach schwerwiegenden Traumatisierungen findet sich aber auch ein Anstieg zahlreicher anderer psychischer Störungen wie Depressionen, Angststörungen, schädlicher Substanzgebrauch, somatoforme Störungen etc.
In einem prospektiven Longitudinaldesign können vor allem erhöhte Inzidenzen für PTBS, Depression und spezifische Phobien nachgewiesen werden.
Das konditionale Risiko für eine PTBS nach einem Trauma ist sehr unterschiedlich. Es ist bei unmittelbar auf die Kernidentität eines Menschen zielenden Gewalteinwirkungen wie Folter, sexueller Missbrauch oder Vergewaltigung am höchsten, aber auch sehr hoch nach Mitteilungen über den unerwarteten Tod eines nahen Angehörigen.
Es besteht eine klare Dosis-Wirkungs-Kurve bezüglich der Schwere und Häufigkeit von traumatischen Erfahrungen und dem konditionalen Risiko einer PTBS. Die allgemeine Trauma-Expositionsrate in den USA liegt konservativ geschätzt etwa bei 60 Prozent, beispielsweise in Algerien aber bei über 90 Prozent. Die korrespondierenden PTBS-Lebenszeitprävalenzen betragen entsprechend 7,8 Prozent versus 37,4 Prozent.
Eine Dosis-Wirkung-Beziehung wird für folgende Traumatypen berichtet: sexuelle Gewalt, Kampfeinsätze, terroristische Anschläge, Naturkatastrophen.
Gesellschaftliche Kontexte und Entwicklungsstandards sind bedeutsame Einflussfaktoren, wenn in den USA das PTBS-Risiko nach interpersonaler Gewalt größer als nach Autounfällen ist, in Entwicklungsländern aber das Ausmaß von neuen PTBS-Fällen nach Naturkatastrophen durch den umfassenderen Verlust von zivilen Ressourcen unvergleichlich höher liegt.
Die Lebenszeithäufigkeit einer PTBS beträgt in den amerikanischen Studien für Frauen ca. zehn Prozent, für Männer ca. fünf Prozent. In europäischen Untersuchungen sind die Raten aber deutlich niedriger und unterstreichen hierin ebenfalls wichtige soziokulturelle Bedingungsfaktoren in der Pathogenese der PTBS.
Erste epidemiologische Feldstudien, denen die modernen Kriterien von ICD-11 zugrunde gelegt wurden, zeigten für Deutschland eine Ein-Monats-Prävalenz für PTBS von 1,5 Prozent, für die komplexe PTBS von 0,6 Prozent sowie für eine Variante der komplexen PTBS mit niedrigerer Symptomschwelle von 0,7 Prozent.
Für die anhaltende Trauerstörung wurde eine bedeutsam hohe Prävalenzrate von knapp zehn Prozent ermittelt.
Die Klärung jener Einflüsse, die das allgemeine Risiko für eine Trauma-Exposition einerseits, für die anschließende Entwicklung einer PTBS andererseits erhöhen, ist noch nicht befriedigend abgeschlossen. Metaanalysen heben konsistent drei Risikofaktoren hervor: Psychiatrische Eigen- und Familienanamnese sowie traumatische Vorerlebnisse.
Die gefundenen Effektstärken dieser prätraumatischen Variablen stehen gegenüber peri- und posttraumatischen Einflussfaktoren wie Intensität des Traumas, mangelnde psychosoziale Unterstützung und zusätzliche belastende Lebensereignisse in der Folgezeit in der Vorhersagekraft einer PTBS aber bedeutsam zurück.
Es ist davon auszugehen, dass in Zukunft eine große Anzahl von neurobiologischen Variablen, insbesondere auch genetischen und epigenetischen Faktoren zu dieser zentralen klinischen Fragestellung signifikant beitragen wird.
Verlaufsperspektive
In einer Verlaufsperspektive tritt unmittelbar nach einer schwerwiegenden Trauma-Exposition normativ eine Fülle von kognitiven, affektiven und verhaltensbezogenen Symptomen auf. Diese Symptome werden über die Cluster der Intrusion, der Vermeidung, des autonomen Hyperarousal, der Dissoziation, der Depression zufriedenstellend erfasst. Sie sind mehrheitlich vorübergehender Natur.
Hinter dieser allgemeinen Verlaufstendenz verbergen sich unterschiedliche Verlaufsgestalten. Der Gesamtdistress liegt bei jenen Personen, die schließlich die diagnostischen Kriterien einer PTBS erfüllen, bereits initial auf einem höheren Niveau.
Diesen protypischen posttraumatischen Verlaufsmustern liegt ein komplexes Zusammenspiel von Risiko- und protektiven Faktoren zugrunde. Vulnerabilität und Resilienz bestimmen das initiale Distressniveau, aber auch die Wahrscheinlichkeit eines Übergangs zur PTBS. Weitere belastende Ereignisse und Beeinträchtigungen in der Folgezeit spielen ebenfalls eine große Rolle.
Die unterschiedlichen Verlaufsgestalten nach einem Trauma belegen, dass die PTBS keine normative, sondern eine atypische posttraumatische Reaktion ist, deren wesentliches Kennzeichen die behinderte Erholung in einen psychosozialen Normalzustand ausdrückt.
PTBS-Symptome in voller klinischer Ausprägung über drei Monate definieren einen chronischen Verlauf. Die durchschnittliche Verlaufsdauer einer chronischen PTBS geht meist über mehrere Jahre. Beeinträchtigende Einzelsymptome bestehen aber oft über viele Jahre, nicht selten lebenslang.
Eine chronische PTBS zieht zahlreiche zusätzliche gesundheitliche Nachteile nach sich. Es besteht ein stark erhöhtes Risiko auch für andere komorbide psychiatrische Störungen. Bei den Männern sind dies v.a. Alkoholmissbrauch oder -abhängigkeit, Major Depression, Verhaltensstörungen, Drogenmissbrauch oder -abhängigkeit, bei den Frauen Major Depression, spezifische Phobien, soziale Phobien und Alkoholmissbrauch oder -abhängigkeit.
In aller Regel geht die PTBS den komorbiden Störungen zeitlich voraus. Diese psychiatrische Komorbidität ist hinsichtlich Verlauf und Prognose eigenständig zu bewerten.
Bei langfristigen PTBS-Verläufen sind große Einbußen in der gesundheitsbezogenen Lebensqualität und psychosoziale Integration die Regel. Ein signifikant erhöhtes Risiko für Suizidversuche ist besonders zu beachten.
Zahlreiche Somatisierungssyndrome und eine erhöhte somatische Morbidität sind ebenfalls wichtige Langzeitfolgen.
Psychologische Ebene
Eine der grundlegendsten Erkenntnisse aus den empirischen und experimentellen Studien zu traumatischen Erfahrungen und ihren Gesundheitsfolgen sind, dass psychosozial definierte Ereignisse nicht nur dramatische psychologische Verarbeitungsprozesse auslösen, sondern auch tief in biologische Regulationssysteme eingreifen und funktionelle wie auch strukturelle Störungen nach sich ziehen können.
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