Eine bedeutende Grundrate an zivilen wie familiären Gewalterfahrungen hat zunehmend auch westliche Gesellschaften für traumatische Erfahrungen und Trauma-Folgestörungen sensibilisiert. Die globalisierte Dimension von Krieg, Folter, Genozid, Natur- und Hungerkatastrophen mit einer seit mehreren Jahren nun auch europäische Staaten erreichenden Massenmigration hat noch dazu beigetragen, dass traumatische Ereignisse und ihre Gesundheitsfolgen im öffentlichen Bewusstsein zentral beachtet werden. Die moderne westliche Sicht auf Traumatisierungen und ihre gesundheitlichen Konsequenzen haben sich vorrangig auf die Dimension des individuellen Leidens konzentriert und wichtige soziokulturelle Kontexte weitgehend ausgeblendet.
Auch gerieten menschliche Krisen und Katastrophen immer stärker in eine exklusive Zuständigkeit der Medizin, insbesondere von Psychiatrie und Psychotherapie. In einer transkulturellen Perspektive wurde an dieser einseitigen Konzeptualisierung mehrfache Kritik geäußert (Kirmayer et al.). Trauma beschreibt allgemein ein äußeres Ereignis, das für die große Mehrheit einer Bevölkerung das Gefühl einer überwältigenden Bedrohung vermittelt.
Diagnostische Kriterien und Veränderungen in DSM-5 und ICD-11
Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) zeichnete sich bis zu DSM-IV-TR und im Wesentlichen auch im ICD-10 durch drei Symptomkomplexe aus, durch intrusiv auftretende Erinnerungen an das Trauma, durch eine systematische Vermeidung aller Trauma-bezogenen Aspekte sowie durch zahlreiche körperliche und kognitive Symptome einer autonom-nervösen Überaktivität. In DSM-5 wird das klinische Bild einer PTBS erstmals sehr viel breiter beschrieben. Es werden nunmehr auch negative Veränderungen in Kognitionen und Stimmungen in unmittelbarer Assoziation mit dem Trauma eigenständig abgebildet.
In der neuen Version von DSM-5 werden im Trauma-Kriterium extreme und nicht nur schwerwiegende Stresserfahrungen verlangt. Das noch in DSM-IV-TR zusätzlich geforderte subjektive Kriterium einer traumatischen Erschütterung mit Todesangst, Panik, Ohnmacht und Hilflosigkeit wurde hingegen aufgegeben, da sich epidemiologisch keine prospektive Bedeutung für ein erhöhtes Risiko einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) bestätigen ließ (Kapfhammer 2014). DSM-5 gibt die vormals strikte Forderung von gleichzeitig nachzuweisenden Symptomen je aus den drei PTBS-Clustern von Intrusion, Vermeidung und autonomem Hyperarousal sowie einem eigenen dissoziativen Cluster zugunsten einer freien Kombinierbarkeit der aufgelisteten Symptome auf. Es setzt aber eine hohe Symptomschwelle (≥9 aus 14) für die Diagnose an (Bryant et al.).
DSM-5 führt explizit auch die Kodierung eines „verspäteten Beginns“ auf. Und es definiert ferner die separate Spezifizierung eines „dissoziativen Subtypus“ mit prominenten Symptomen einer Depersonalisation und Derealisation. Die breite Konzeptualisierung der PTBS in DSM-5 hat letztlich dazu geführt, dass kein eigenständiger diagnostischer Status einer „komplexen PTBS“ in die Störungsgruppe aufgenommen worden ist. Unter einer komplexen PTBS wird klinisch ein breiter Symptomenkomplex beschrieben, bei dem die Kriterien einer PTBS sehr häufig gleichzeitig erfüllt sind.
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Es imponieren aber vor allem Symptome einer affektiven Dysregulation, eines chronischen selbstdestruktiven Verhaltens, dissoziative und somatoforme Symptome sowie pathologisch veränderte Selbstkonzepte und Beziehungsstile infolge von schwerwiegenden Traumata speziell während der frühen Entwicklungsjahre (Cloitre et al.). Auch eine anhaltende Trauerstörung mit einer über viele Monate, weit über die soziale und kulturelle Norm hinaus anhaltenden Trauer nach dem Tod einer geliebten Person wurde zunächst als eigenständiger diagnostischer Status zwischen Anpassungs- und Trauma-bezogenen Störungen diskutiert (Shear et al. 2013). DSM-5 nimmt diesem diagnostischen Konzept gegenüber vorläufig eine zuwartende Position ein und betont eine notwendige weitere empirische Überprüfung (Bryant 2014).
Das amerikanische DSM-5 und die demnächst publizierte ICD-11 der WHO werden in Zukunft recht unterschiedliche konzeptuelle Wege in der Diagnose von Trauma- und Stressor-bezogenen Störungen beschreiten, die einen möglichen Einfluss auf die epidemiologische Kennziffern weltweit haben werden (Hafstad et al. 2017). Im ICD-11 wird sich die Diagnose einer PTBS einerseits auf ein sehr allgemein gehaltenes Trauma-A-Kriterium („an extremely threatening or horrific event“) stützen, andererseits eine relativ enge, als spezifisch erachtete klinische Phänomenologie definieren. Die neue Diagnose einer komplexen PTBS wird drei spezielle intra- und interpersonale Symptom-Cluster zusätzlich zu den PTBS-Kernsymptomen beinhalten (Brewin et al.). Als weitere Diagnose wird eine anhaltende Trauerstörung aufgeführt sein (Maciejewski et al. 2016). Die Diagnose der Anpassungsstörung wird durch Anlehnung an das psychologische PTBS-Modell von Intrusion und Vermeidung eine wesentlich stärkere Spezifizierung der Symptome zeigen (Kazlauskas et al. 2018).
In einer für weitere Forschung offenen Kategorie „akuter Stressreaktionen“ sollen vorübergehende intensive emotionale, kognitive und behaviorale Reaktionen nach einem Trauma notiert werden, die hinsichtlich der extremen Schwere des Stressors aber als normative Belastungsreaktionen konzipiert sein sollen (Maercker et al.). Im besonderen Fokus auf akute dissoziative Symptome sollten zudem Personen mit einem erhöhten PTBS-Risiko früh identifiziert werden. Dieses ABS-Konzept war imstande, eine solche Risikogruppe reliabel zu beschreiben. Es war nicht aber ausreichend sensitiv, die Gesamtgruppe der nach einem Trauma auftretenden Fälle von PTBS zu erfassen (Cardeña & Carlson 2011).
Epidemiologie und Risikofaktoren
In einer epidemiologischen Perspektive stellen PTBS und ABS prototypische Reaktionstypen dar. Nach schwerwiegenden Traumatisierungen findet sich aber auch ein Anstieg zahlreicher anderer psychischer Störungen wie Depressionen, Angststörungen, schädlicher Substanzgebrauch, somatoforme Störungen etc. (Reifels et al. 2017). In einem prospektiven Longitudinaldesign können vor allem erhöhte Inzidenzen für PTBS, Depression und spezifische Phobien nachgewiesen werden (Asselmann et al. 2018). Das konditionale Risiko für eine PTBS nach einem Trauma ist sehr unterschiedlich. Es ist bei unmittelbar auf die Kernidentität eines Menschen zielenden Gewalteinwirkungen wie Folter, sexueller Missbrauch oder Vergewaltigung am höchsten, aber auch sehr hoch nach Mitteilungen über den unerwarteten Tod eines nahen Angehörigen.
Es besteht eine klare Dosis-Wirkungs-Kurve bezüglich der Schwere und Häufigkeit von traumatischen Erfahrungen und dem konditionalen Risiko einer PTBS. Die allgemeine Trauma-Expositionsrate in den USA liegt konservativ geschätzt etwa bei 60 Prozent, beispielsweise in Algerien aber bei über 90 Prozent. Die korrespondierenden PTBS-Lebenszeitprävalenzen betragen entsprechend 7,8 Prozent versus 37,4 Prozent. Eine Dosis-Wirkung-Beziehung wird für folgende Traumatypen berichtet: sexuelle Gewalt, Kampfeinsätze, terroristische Anschläge, Naturkatastrophen.
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Gesellschaftliche Kontexte und Entwicklungsstandards sind bedeutsame Einflussfaktoren, wenn in den USA das PTBS-Risiko nach interpersonaler Gewalt größer als nach Autounfällen ist, in Entwicklungsländern aber das Ausmaß von neuen PTBS-Fällen nach Naturkatastrophen durch den umfassenderen Verlust von zivilen Ressourcen unvergleichlich höher liegt (Atwoli et al.). Die Lebenszeithäufigkeit einer PTBS beträgt in den amerikanischen Studien für Frauen ca. zehn Prozent, für Männer ca. fünf Prozent. In europäischen Untersuchungen sind die Raten aber deutlich niedriger und unterstreichen hierin ebenfalls wichtige soziokulturelle Bedingungsfaktoren in der Pathogenese der PTBS (Norris & Slone 2014).
Erste epidemiologische Feldstudien, denen die modernen Kriterien von ICD-11 zugrunde gelegt wurden, zeigten für Deutschland eine Ein-Monats-Prävalenz für PTBS von 1,5 Prozent, für die komplexe PTBS von 0,6 Prozent sowie für eine Variante der komplexen PTBS mit niedrigerer Symptomschwelle von 0,7 Prozent (Maercker et al. 2018). Für die anhaltende Trauerstörung wurde eine bedeutsam hohe Prävalenzrate von knapp zehn Prozent ermittelt (Lundorff et al.).
Die Klärung jener Einflüsse, die das allgemeine Risiko für eine Trauma-Exposition einerseits, für die anschließende Entwicklung einer PTBS andererseits erhöhen, ist noch nicht befriedigend abgeschlossen. Metaanalysen heben konsistent drei Risikofaktoren hervor: Psychiatrische Eigen- und Familienanamnese sowie traumatische Vorerlebnisse. Die gefundenen Effektstärken dieser prätraumatischen Variablen stehen gegenüber peri- und posttraumatischen Einflussfaktoren wie Intensität des Traumas, mangelnde psychosoziale Unterstützung und zusätzliche belastende Lebensereignisse in der Folgezeit in der Vorhersagekraft einer PTBS aber bedeutsam zurück. Es ist davon auszugehen, dass in Zukunft eine große Anzahl von neurobiologischen Variablen, insbesondere auch genetischen und epigenetischen Faktoren zu dieser zentralen klinischen Fragestellung signifikant beitragen wird.
Verlauf und Komorbidität
In einer Verlaufsperspektive tritt unmittelbar nach einer schwerwiegenden Trauma-Exposition normativ eine Fülle von kognitiven, affektiven und verhaltensbezogenen Symptomen auf. Diese Symptome werden über die Cluster der Intrusion, der Vermeidung, des autonomen Hyperarousal, der Dissoziation, der Depression zufriedenstellend erfasst. Sie sind mehrheitlich vorübergehender Natur. Hinter dieser allgemeinen Verlaufstendenz verbergen sich unterschiedliche Verlaufsgestalten (Bonanno et al.). Der Gesamtdistress liegt bei jenen Personen, die schließlich die diagnostischen Kriterien einer PTBS erfüllen, bereits initial auf einem höheren Niveau.
Diesen protypischen posttraumatischen Verlaufsmustern liegt ein komplexes Zusammenspiel von Risiko- und protektiven Faktoren zugrunde. Vulnerabilität und Resilienz bestimmen das initiale Distressniveau, aber auch die Wahrscheinlichkeit eines Übergangs zur PTBS. Weitere belastende Ereignisse und Beeinträchtigungen in der Folgezeit spielen ebenfalls eine große Rolle. Die unterschiedlichen Verlaufsgestalten nach einem Trauma belegen, dass die PTBS keine normative, sondern eine atypische posttraumatische Reaktion ist, deren wesentliches Kennzeichen die behinderte Erholung in einen psychosozialen Normalzustand ausdrückt (Shalev et al. 2017). PTBS-Symptome in voller klinischer Ausprägung über drei Monate definieren einen chronischen Verlauf. Die durchschnittliche Verlaufsdauer einer chronischen PTBS geht meist über mehrere Jahre. Beeinträchtigende Einzelsymptome bestehen aber oft über viele Jahre, nicht selten lebenslang (Rosellini et al.).
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Eine chronische PTBS zieht zahlreiche zusätzliche gesundheitliche Nachteile nach sich. Es besteht ein stark erhöhtes Risiko auch für andere komorbide psychiatrische Störungen. Bei den Männern sind dies v.a. Alkoholmissbrauch oder -abhängigkeit, Major Depression, Verhaltensstörungen, Drogenmissbrauch oder -abhängigkeit, bei den Frauen Major Depression, spezifische Phobien, soziale Phobien und Alkoholmissbrauch oder -abhängigkeit. In aller Regel geht die PTBS den komorbiden Störungen zeitlich voraus (Atwoli et al. 2015). Diese psychiatrische Komorbidität ist hinsichtlich Verlauf und Prognose eigenständig zu bewerten (Steinert et al. 2015). Bei langfristigen PTBS-Verläufen sind große Einbußen in der gesundheitsbezogenen Lebensqualität und psychosoziale Integration die Regel. Ein signifikant erhöhtes Risiko für Suizidversuche ist besonders zu beachten. Zahlreiche Somatisierungssyndrome und eine erhöhte somatische Morbidität sind ebenfalls wichtige Langzeitfolgen (Schnurr 2015; McLeay et al.).
Neurobiologische und psychologische Aspekte
Eine der grundlegendsten Erkenntnisse aus den empirischen und experimentellen Studien zu traumatischen Erfahrungen und ihren Gesundheitsfolgen sind, dass psychosozial definierte Ereignisse nicht nur dramatische psychologische Verarbeitungsprozesse auslösen, sondern auch tief in biologische Regulationssysteme eingreifen und funktionelle wie auch strukturelle Störungen nach sich ziehen können. Und umgekehrt, dass genetische Ausstattung, epigenetische Mechanismen und biologische Prozesse wesentlichen Einfluss darauf nehmen, ob eine spezielle traumatische Erfahrung zu schwerwiegenden psychischen Störungen, z.B. einer PTBS, und auch zu ernsten körperlichen Erkrankungsrisiken führt, oder aber mit einer erstaunlichen Kraft und Resilienz trotz anfänglicher Erschütterung gemeistert wird (Southwick et al. 2014).
Auf einer psychologischen Ebene liegen mittlerweile zahlreiche Ansätze vor, die Entstehen und klinische Ausgestaltung einer PTBS besser verständlich machen. Kognitiv-behaviorale Modelle besitzen das stärkste Erklärungspotenzial für die vielfältigen klinisch-phänomenologischen und verlaufsdynamischen Aspekte einer PTBS. Die typischen psychologischen Folgen nach Traumata sind in zahlreichen klinischen und experimentellen Studien detailliert beschrieben worden (Kapfhammer 2017 a). Einige Aspekte werden in der jüngeren Forschung speziell herausgehoben. So ist die posttraumatische Verarbeitung entscheidend mit dissoziativen Prozessen vergesellschaftet. Dissoziative Symptome sind einerseits das Ergebnis einer desintegrierten Prozessierung Trauma-bezogener Informationen, andererseits die Folge des evolutionär verankerten Schutzmechanismus von Depersonalisation und Derealisation.
Traumatische Erfahrungen markieren einen zentralen Knotenpunkt im autobiografischen Gedächtnis. Wichtige Aspekte und Details der traumatischen Szene werden aber oft nicht oder nur sehr verzerrt gespeichert. Der Grad der narrativen Desorganisation ist hierbei signifikant mit dem Ausmaß von Dissoziation während und nach dem Trauma assoziiert (Brewin 2011). Der beeinträchtigten willentlichen Erinnerungsfähigkeit an ein definiertes Trauma steht meist eine sehr bedrohlich erlebte, unwillkürliche intrusive Wiedererinnerung an das Trauma gegenüber. Intrusive Flashbacks werden meist automatisch durch äußere und innere Stimuli ausgelöst, die einen kontingenten, aber bewusst nicht wahrgenommenen Zusammenhang mit dem Trauma aufweisen. Sie sind meist fragmentarisch und zeichnen sich durch starke bildhafte Eindrücke und heftige somatische Mitreaktionen aus. Diese emotional intensiven Erinnerungen können nachträglich nur schwer verbalisiert werden.
Alle PTBS-Patienten weisen gelegentlich dissoziative Symptome als Ergebnis einer desintegrierten posttraumatischen Verarbeitung auf. Zirka ein Drittel der PTBS-Patienten zeigen aber auch einen dissoziativen Reaktionstypus mit prominenten Symptomen der Depersonalisation und Derealisation. Der zeitliche Fluss unseres Bewusstseins erlaubt normalerweise eine willentliche Bewegung des Selbst aus dem Augenblick der Gegenwart in die Vergangenheit wie auch in die Zukunft. Wir können normalerweise ein aktuelles Erleben, eine rückwärtsgewandte Erinnerung oder eine auf die Zukunft gerichtete Vorstellung klar unterscheiden. In traumatisch veränderten Bewusstseinszuständen wird diese souveräne Lei...
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