In der Psychoanalyse bezieht sich der Begriff "oraler Charakter" auf eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur, die durch Erfahrungen in der frühen Kindheit, insbesondere während der oralen Phase der psychosexuellen Entwicklung, geprägt wurde.
Die orale Phase nach Freud
Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, postulierte, dass die psychosexuelle Entwicklung in verschiedenen Phasen verläuft, von denen jede durch eine bestimmte erogene Zone und damit verbundene psychische Herausforderungen gekennzeichnet ist. Die orale Phase ist die erste dieser Phasen und erstreckt sich von der Geburt bis etwa zum 18. Lebensmonat.
Während dieser Zeit ist der Mund des Kindes die primäre Quelle für Befriedigung und Erkundung. Säugen, Saugen an Fingern oder Gegenständen und orale Stimulation spielen eine zentrale Rolle. Freud glaubte, dass Erfahrungen in dieser Phase einen tiefgreifenden Einfluss auf die spätere Persönlichkeitsentwicklung haben können.
Entstehung des oralen Charakters
Ein oraler Charakter entwickelt sich, wenn die Bedürfnisse des Kindes in der oralen Phase entweder übermäßig befriedigt oder frustriert werden. Eine übermäßige Befriedigung kann dazu führen, dass das Individuum in späteren Lebensabschnitten eine übermäßige Abhängigkeit von anderen entwickelt, während eine Frustration zu einem Gefühl der Unsicherheit und des Mangels führen kann.
Merkmale des oralen Charakters
Menschen mit einem oralen Charakter weisen typischerweise bestimmte Verhaltensweisen und Persönlichkeitsmerkmale auf. Dazu gehören:
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- Abhängigkeit: Ein starkes Bedürfnis nach Unterstützung und Bestätigung durch andere.
- Passivität: Tendenz, sich von anderen leiten zu lassen und eigene Entscheidungen zu vermeiden.
- Gutmütigkeit: Oft freundlich und entgegenkommend, um Konflikte zu vermeiden.
- Glaube: Leichtgläubig und vertrauensselig gegenüber anderen.
- Bedürfnis nach Aufnahme: Starkes Verlangen nach Essen, Trinken, Rauchen oder anderen oralen Befriedigungen.
- Gesprächigkeit: Tendenz zum Reden, oft um Aufmerksamkeit zu erlangen oder Ängste zu bewältigen.
Beispiele für orales Verhalten
Orale Charaktere können bestimmte Verhaltensweisen zeigen, die auf ihre Persönlichkeitsstruktur hinweisen:
- Übermäßiges Essen oder Trinken als Reaktion auf Stress.
- Rauchen oder Kaugummikauen zur Beruhigung.
- Nägelkauen oder Lippenbeißen in nervösen Situationen.
- Übermäßiges Reden oder Unterbrechen von Gesprächen.
- Suche nach Bestätigung und Lob von anderen.
Kritik an der Theorie des oralen Charakters
Die Theorie des oralen Charakters ist nicht ohne Kritik geblieben. Einige Kritiker argumentieren, dass Freuds psychosexuelle Entwicklungsstufen nicht ausreichend empirisch belegt sind und dass die Persönlichkeitsentwicklung komplexer ist, als durch eine einzige Phase determiniert zu werden.
Trotz dieser Kritik bleibt das Konzept des oralen Charakters ein wichtiger Bestandteil der psychoanalytischen Theorie und kann dazu beitragen, bestimmte Verhaltensmuster und Persönlichkeitsmerkmale besser zu verstehen.
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