Psychologie und Psychiatrie im Wandel der Zeit

Für Verena Kast ist das Gespräch „erfrischend“: Im Zoom-Interview merkt man rasch, dass es ihr ein großes Anliegen ist, die Aktualität von C.G. Jungs Tiefenpsychologie lebensnah zu vermitteln. Mit Büchern, Vorträgen und Fachpublikationen hat die ehemalige Psychotherapeutin maßgeblich dazu beigetragen - ebenso wie als Dozentin, Lehranalytikerin und schließlich auch als Präsidentin des C.G. Jung-Instituts Zürich.

Die Aktualität der Tiefenpsychologie

DIE FURCHE: Eine persönliche Frage vorweg: Was hat Sie eigentlich dazu bewegt, sich der Tradition von Carl Gustav Jung zuzuwenden?

Verena Kast: Das war 1965, und da war in Zürich in der Tiefenpsychologie sehr viel los. Ich habe mir sämtliche Angebote angesehen; das Jung-Institut war am chaotischsten und am kreativsten zugleich. Es gab Märchenvorlesungen, und ich bin als Kind mit Märchen aufgewachsen. Plötzlich hat mir das intuitiv eingeleuchtet. Die Basis der Jung’schen Psychologie ist, dass der Mensch kreativ sein muss, um gesund zu sein.

Das ist auch die Idee in der Therapie: Man muss Raum schaffen, damit schöpferische Kräfte wirksam werden können. Diese Kreativität hat mit der Bedeutung der Träume und Imaginationen zu tun. Es gibt ein Kontinuum zwischen den Tag- und Nachtträumen, und es wird immer wieder die Verbindung zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein hergestellt. Das war übrigens auch ein Gegenprogramm zur Universität, die damals bereits viel mit Statistik aufgewartet hat.

Gesellschaftliche Umbrüche und die Seele

DIE FURCHE: Jetzt blicken Sie auf eine reichhaltige Erfahrung als Psychotherapeutin zurück. Die Zeiten haben sich inzwischen sehr geändert. Wie sehen Sie die Umbrüche durch Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, etc.?

Lesen Sie auch: Umfassende Informationen zu ADHS Medikamenten

Kast: Man braucht die Tiefenpsychologie mehr denn je. So war etwa bei der Corona-Pandemie zu sehen, dass Menschen mit einer reichhaltigen Beziehung zu ihrem Innenleben viel besser zurechtgekommen sind: also jene, die gerne lesen, häufig in die Natur gehen, Selbsterfahrung machen, etc. Im Laufe der Jahrzehnte ist es zu einem gesellschaftlichen Rückschritt gekommen: Die menschliche Seele hat heute kaum noch eine Lobby. Umso wichtiger ist eine tiefenpsychologische Schule, die eine vitale Verbindung zu unserer Vorstellungskraft herstellen kann. Das ist doch heute wirklich subversiv!

Archetypen und ihre Bedeutung

DIE FURCHE: Jung sprach von den Archetypen, also urtümlichen Bildern im kollektiven Unbewussten. Welche davon erscheinen derzeit besonders relevant?

Kast: Archetypen sind anthropologische Konstanten, die sich in den Emotionen niederschlagen, aber auch in den Erzählungen, die damit verbunden sind. Das Wichtige daran: Gewisse Geschichten haben großen Einfluss auf uns, da wir in Resonanz zu diesen Narrativen unser Leben gestalten. Heute bräuchte man unbedingt mehr „Anima“. Das war der Begriff, mit dem C.G. Jung das Weibliche im Mann beschrieben hat. Denn wir leben in einer unheimlich kompetitiven Gesellschaft. Demgegenüber wäre eine Stärkung der „weiblichen“, fürsorglichen Qualitäten wichtig.

Weitere Betrachtungen und Standpunkte

Die Frage „wer bin ich?“ oder „was bin ich?“ hat der Mensch zu allen Zeiten gestellt.

Der Psychologismus der Gegenwart hat immer wieder versucht, im Geiste Nietzsches das Problem der Moral in die Psychologie einzubeziehen, und ist dabei letzten Endes zu dem Resultat gelangt, die Moral überhaupt aufzuheben. Wenn die moralische Haltung eines Menschen nur in seinem psychologischen Wesen begründet ist, dann kommt den moralischen Impulsen natürlich keine objektive Gültigkeit mehr zu, sondern, was der einzelne für gut und böse hält, bleibt ausschließlich seiner subjektiven Entscheidung überlassen.

Lesen Sie auch: ADHS Diagnose: Der neurologische Blick

Wir fühlen, wie sehr das Problem von Krieg und Frieden uns ans Leben dringt. Und nicht nur als eines offenen Ausbruchs von Gewalt; sondern die Wurzeln des Krieges gehen ja viel tiefer hinab. Der äußere Krieg kann nur entstehen, weil der innere da ist. Worin besteht aber dieser? Darin, daß in einem begrenzten Bereich auf der kleinen Erde, die immer kleiner wird, verschiedene Initiativen wirksam sind; und nicht nur verschiedene, sondern einander widersprechende.

Ich will jetzt nicht von den verschiedenen Stilen sprechen, das ist für mich recht abstrus geworden in den letzten 35 Jahren. Was mich interessiert, ist, daß es zwei polare Strömungen gibt in einem menschlichen Hirn. Die eine Strömung bewertet besonders das Gewohnte und hergebracht Bewährte, und ich schlage vor, sie hier weniger als eine moralische, sondern mehr als eine physiologische Angelegenheit und Notwendigkeit einzuschätzen.

Sie ist schon bei den Tieren genau zu verfolgen und experimentell zu demonstrieren.

In der amerikanischen Zeitschrift „Sociology 6nd Social Research“ las ich vor einiger Zeit die folgende selbstbewußte Prophezeiung: „Da wir imstande sind, Pflanze und Tier uns dienstbar zu machen, da wir den Lauf der Flüsse lenken und... die Temperatur im Inneren unserer Behausungen beliebig zu regulieren vermögen, muß man logischerweise auch annehmen, daß es • uns gelingen wird, die Willensimpulse der Menschen zu verändern.“

Noch zu Beginn dieses Jahrhunderts kannte die breite Masse der zivilisierten Völker das Gesicht des Staatsoberhauptes nur von den Münzen oder bestenfalls von den Briefmarken her. Trotz mehr als viereinhalb Jahrhunderten Buchdrucks war es bis dahin nicht möglich und vielleicht auch nicht nötig gewesen, lebensähnliche Porträts billig und in Massenauflage herzustellen.

Lesen Sie auch: Psychologische Berufe im Vergleich

Die Betrachtungen und Spekulationen über den Aufstand eines Teiles der jungen Generation haben hauptsächlich mit den Ereignissen in Frankreich im Monat Mai 1968 brennende Aktualität erhalten. Seit dieser Zeit besteht ein Überangebot an Erklärungen, die allzu oft das Wesentliche mit Nebensächlichkeiten vermischen und dadurch das Bild trüben - eine nicht ungefährliche Entwicklung.

Früher galten Schulen und Hochschulen als wichtigste Kontaktstellen zur literarischen Produktion: Hier wurde besonders wirksam auf Neuerscheinungen aufmerksam gemacht - und zugleich auf dauerhaft Gültiges. Maßstäbe zur Beurteilung geistiger Güter wurden vermittelt. Bildungsmedium war das Buch vor allem deshalb, • weil es als Wertträger angefordert wurde. Die Bücherproduktion war überschaubar und konnte komplett und ruhig beurteilt werden.

Wandel ist der Zeiten Wesen, alle staatlich-politischen, gesellschaftlichen oder kulturellen Gegebenheiten, wie wir sie jeweils vorfinden, und die Suche nach dem, was jeweils zum Wandel gereift ist, muß zum ersten Auftrag jedes Verantwortlichen gehören, muß getragen sein von dem Mut zur Wendung in das Unbekannte, vom Bekenntnis zur schöpferischen Phantasie.

„Konstruktive Gespräche über Wege in eine mögliche Zukunft“ (Untertitel) führte Dolores Bauer für ihre ORF-Serie „Die Zeichen der Zeit erkennen“, die auch als Herder-Buch vorliegt. Als Atheistin aufgewachsen, als Dozentin Mitglied der sowjetischen Intelligentsia erlebte Tatjana Goritschewa eine „paulinische” Bekehrung.

Die Kunst des Alterns besteht darin, die unvermeidbaren Verluste so durchzustehen, dass immer noch ein Gewinn auszumachen ist.

Mit ihrem Buch „‚Iss doch endlich mal normal!‘“ (Kösel-Verlag) hat Bärbel Wardetzki einen Klassiker zum Thema Essstörungen verfasst (14 Auflagen, seit 2015 nur noch als E-Book). Die deutsche Psychotherapeutin, die seit 1992 in einer Praxis in München tätig ist, spricht im Telefoninterview über „ungesundes“ Marketing und die neuen Zielgruppen der Nahrungsmittelhersteller.

Essstörungen in der Coronakrise

DIE FURCHE: Die Coronakrise führt derzeit generell zur Zunahme psychischer Störungen. Wie sehen Sie die Entwicklung im Bereich der Essstörungen, die Sie ja bereits seit Jahrzehnten verfolgen?

Bärbel Wardetzki: Tatsächlich gibt es nach wie vor eine deutliche Zunahme gestörten Essverhaltens. Ich kann mich noch an meine Anfänge in der Klinik erinnern: 1980 hatten wir die erste Bulimikerin (Patientin mit Ess-Brechsucht, Anm. d. Red.). Aus einer globalen Perspektive hängt diese Entwicklung mit der Wohlstandsgesellschaft zusammen. In der Nachkriegszeit wurde Essen noch als etwas Wertvolles gesehen. Meine Oma sagte zum Beispiel noch: „Der Kuchen wurde mit echter Butter gemacht.“ Man hat die Nahrung mit Achtsamkeit behandelt. Als es uns immer besser ging, begannen wir, wie die Amerikaner Dinge wegzuschmeißen. Zeitgleich kam das Ideal des Schlankseins auf. Das ist eigentlich paradox; vielleicht aber auch so etwas wie eine Bremse, die uns sagt: „Iss nicht alles!“ Das Gefühl für den Körper und der Respekt fürs Essen gehen verloren.

DIE FURCHE: Welche Rolle spielt das Marketing bzw. die Bewerbung von Nahrungsmitteln, die einen großen Einfluss auf unser Essverhalten hat?

Wardetzki: Werbung unterstützt definitiv esssüchtiges Verhalten. Das zeigt sich in suggestiven Produktnamen und Werbe­slogans. Durst ist ein normales menschliches Bedürfnis, und ein Bedürfnis an sich kann nicht dick machen. Es wird hier aber mit der Esssucht verbunden. „Wenn ich Hunger habe, werde ich dick“ - so denken auch Menschen mit Essstörungen.

Die sexualethischen Anschauungen haben in den letzten 200 Jahren der kulturgeschichtlichen Entwicklung eine bedeutende Wandlung erfahren. Wenige andere Gebiete der Gesamtkultur wurden vom Geist der Aufklärung so tiefgreifend beeinflußt. Die Grenze des Schicklichen als Ausdrude einer bestimmten ethischen Haltung hat sich auf der ganzen Linie der Lebensführung soweit im Sinne einer Auflockerung und Aufgabe strenger Grundsätze verschoben, daß man das Leben von heute in dieser Hinsicht mit dem von einst gar nicht vergleichen kann.

Die Diskussion um die Verwilderung breiter Schichten der städtischen und der verstädterten Jugend in den Dörfern wird nun auch in Oesterreich mit einer erstaunlichen Leidenschaft geführt. Die ausgezeichneten Ausführungen, die Dr. Egger dem Thema in Nummer 19 der „Furche“ gewidmet hat, sollten unter anderem Anlaß sein, die Frage des Absinkens gewichtiger Schichten der männlichen Jugend in einen neuen Techno-Primitivismus vor allem vom Soziologischen und vom Sozialpädagogischen her zu untersuchen.

Die Kulturmaschine läuft, und man braucht nur auf- und abzudrehen nach Belieben. Sie bringt alles nahe, sie bringt es bis ins Schlafzimmer. Sie bringt schlechthin alles nahe, was es gibt: fremde, ferne Länder, Modeschauen, Luftmeetings, Gedichte, Kulturdenkmäler, Festspiele, Königskrönungen, Skispringen, Kirchenfeiern, Unterwasserballette, Negertänze, Hochgebirgs- und Meeresszenerien. Löwenjagden.

Kleinkinder pflegen immer wieder ihren Ball aus dem Kinderwagen zu werfen, und werden dann gescholten. Mit Unrecht, sagt der Seelenforscher, sie tun es ja nicht aus Bosheit, sondern aus Bewegungsfreude oder Wirklust.

Grundzug ist immer die Freude am Tun selbst, die Wirklust. Ziel und Zweck sind dabei gar nicht so wichtig.

Konnte Helmuth Schelsky die Generation nach dem Kriege noch eine skeptische nennen, weil sie aus begreiflichen Gründen irre geworden war, wird es allmählich höchste Zeit, für die mitten unter uns lebende Jugend die richtige Charakterisierung zu finden.

Man kann die Augen wirklich nicht vor ihr schließen - daran hindert uns schon die Plakatsäule an der nächsten Straßenecke. So beschäftigt man sich denn auch mit dieser Welle in allen Tonarten.

Der Turn- und Sportplatz für die heranreifende Jugend neben der großstädtischen Riesenkreuzung hat entschieden zukunftsweisende Dimensionen und Qualitäten. Wenn die Buben und Mädel mit angestrengtem Gesicht beim Wettlauf in tiefen Zügen die über den Gehsteig von der sechsbahnigen Autostraße hereinwehenden Dieselwolken einatmen, dann ist das ein vollendeter Ausdruck unseres Zeitalters.

„Ich würde ja gerne auf gesunde Ernährung achten, aber unsere Lebensmittel sind so vergiftet, daß es ja wirklich gleichgültig ist, was man ißt und trinkt!“ - ein häufiger Stoßseufzer unserer Zeit, wenn es ums Essen und Trinken geht.

Kann man aber überhaupt von der Jugend sprechen? Die abweisende Geste der Wirtsleute: Ist sie nicht ein Symbol auch für unsere Haltung?

Himmelhochjauchzend - zu Tode betrübt! Die Phase der Pubertät ist eine Zeit körperlicher und seelischer Veränderungen, Spannungen, Irrungen und widerstreitenden Emotionen.

Süchtig zu sein, ist heute kein „abweichendes Verhalten” mehr, sondern in unserer Gesellschaft schon fast die Norm. Anhand der Beispiele Alkohol, Medikamenten- und Eßsucht wird aufgezeigt, auf welche Weise „versteckte” Süchte den Menschen beeinträchtigen können.

Alkohol als „legale Droge“

Drei von vier Erwachsenen konsumieren regelmäßig (mehr als einmal in der Woche) Alkohol. Das ist das Ergebnis einer Erhebung des Wiener Anton-Proksch-lnstitutes. Davon sind allerdings etwa 650.000 Menschen alkoholgefährdet. 900.000 Kinder sind gesundheitlich beeinträchtigt, viele davon psychisch.

tags: #Neurologe #Psychiater #Erfurt