ADHS ist keine vorübergehende Unaufmerksamkeit oder bloße Unruhe. Es handelt sich um eine neurologisch bedingte Störung der Selbstregulation, die viele Lebensbereiche beeinflusst.
10 Prozent der deutschen Schulkinder zwischen sechs und zwölf Jahren leiden an diagnostizierter ADHS: Probleme mit anhaltender Aufmerksamkeit, schwer zu unterdrückende Impulsivität und Hyperaktivität machen Schülern, Eltern und Lehrern das Leben - und Lernen - schwer.
Deshalb hilft es wenig, das Verhalten des Kindes "wegtrainieren" zu wollen. Barkleys Rat: Stattdessen sollten Eltern ihre Erwartungen realistisch anpassen.
Stärken erkennen und fördern
Der erste Schritt: Stärken erkennen und fördern. Was tut das Kind wirklich gern? Ob Musik, Sport oder Kochen, auch wenn ein Interesse ungewöhnlich oder unkonventionell erscheint, verdient es Anerkennung und Wertschätzung. Eltern sollten das Kind daher aktiv mit Zeit und Ressourcen unterstützen, damit es seine Talente entwickeln kann.
Umgang mit Fehlern
"Auch ich habe als Vater Fehler gemacht - obwohl ich Experte bin", berichtet Barkley. Perfekte Eltern gebe es nicht. Viel wichtiger sei, mit den eigenen Fehlern umgehen zu können - und mit denen des Kindes.
Lesen Sie auch: Dissoziatives Verhalten erkennen und behandeln
Eltern sollten lernen, sich selbst zu vergeben, wenn sie im stressigen Alltag falsch reagieren. Und genauso wichtig ist es, dem Kind Fehler zuzugestehen. "Es wird wahrscheinlich mehr Fehler machen als ein durchschnittliches neurotypisches Kind", so Barkley. "Vermeiden Sie es, seine Fehler moralisch oder wertend zu beurteilen, und erkennen Sie an, dass dies einfach Teil der Störung ist. Begegnen Sie seinen Missgeschicken stattdessen mit Mitgefühl und zeigen Sie ihm, was es bedeutet, beim nächsten Mal alles richtig machen zu wollen."
Entscheidend ist, aus Fehlern zu lernen und die Beziehung wieder zu stärken - etwa durch gemeinsame Rituale oder liebevolle Erinnerungen an die schönen Seiten des Zusammenlebens.
Ursachen für Stress und Lernprobleme
Die Ursachen für Stress und Lernprobleme können vielfältig sein. Im schulischen Bereich können z.B. Probleme mit Gleichaltrigen, Unter- oder Überforderung im Unterricht oder Konflikte mit Lehrern Auslöser darstellen. Wichtig ist es in einem ersten Schritt, diese mögliche Ursache zu finden.
Was brauchen neurodivergente Kinder, um lesen zu lernen?
Fürs Lesen sind Konzentration und Fokus nötig. Bei Menschen mit ADHS braucht das Gehirn aber mehr Motivation und Spannung, um konzentriert sein zu können. Auch Kinder mit ADHS können gut und gerne lesen lernen - sie brauchen nur bestimmte Bedingungen, damit ihr Gehirn dafür bereit ist.
Die Rolle der Leseumgebung
Ja, die Leseumgebung spielt eine ganz große Rolle! Am besten schaut man, wo das Kind sich wohlfühlt und wo wenig ablenkende Reize vorhanden sind. Das ADHS-Gehirn ist ständig auf der Suche nach Reizen, die es ausreichend zünden. Daher lässt es sich schnell ablenken, wenn Außenreize mehr aktivieren als die aktuelle Tätigkeit. Man könnte also eine Ecke mit möglichst wenig Ablenkung gestalten, zu Hause etwa auf einem Sitzsack, mit eigener Leselampe; hilfreich sind oft auch geräuschabschirmende Kopfhörer.
Lesen Sie auch: Wirksame ADHS-Behandlungen
Die Wahrnehmung von Menschen mit ADHS ist meist stark im Außen und wenig auf sie selbst gerichtet. Hier kann Gewicht am Körper helfen, die Aufmerksamkeit mehr bei sich selbst und dem eigenen Tun als auf der Umgebung zu haben - zum Beispiel also eine Gewichtsdecke oder ein Gewichts-Kuscheltier.
Konzentration und Motivation
Man muss Zünder finden, die das ADHS-Gehirn aktivieren. Das kann man über die Auswahl der Texte schaffen, wenn diese ein Lieblingsthema behandeln, aber zum Beispiel auch über kleine Aufgaben, die nach jedem Abschnitt zu lösen sind. Oder man sucht Wege, wie man einen Wettbewerbscharakter generieren kann.
Intrinsisches Interesse ist einer der wichtigsten Faktoren. Schließlich ist bei ADHS oft ein höheres Motivations- und Spannungsniveau im Gehirn nötig, damit Kinder sich konzentrieren können. Das ist automatisch stärker gegeben, wenn es um ein Thema geht, das das Kind wirklich interessiert. Wenn möglich hilft es also, das Kind kennenzulernen: Wie tickt es, über welche Themen spricht es in der Pause, was erzählt es vom Wochenende? So oft wie möglich - gerade beim Lesenlernen - Texte zu Themen auszuwählen, von denen das Kind begeistert ist, trägt ganz wesentlich dazu bei, dass das Gehirn im nötigen Maß aktiviert wird.
Hilfsmittel für das Lesen
Da gibt es einige sehr gute Hilfsmittel - zum Beispiel ein Leselineal, das man an der Zeile entlangschiebt und das hilft, nicht in der Zeile zu verrutschen, sondern sich auf den Teil des Textes zu konzentrieren, der gerade gelesen werden soll. Es gibt auch ein Leseraster, das man über die Seite legen kann. Dabei ist in gewissen Abständen eine Schnur quer über den Text gespannt. Diese teilt längere Texte in überschaubare Abschnitte und gibt das Signal, an einer bestimmten Stelle innezuhalten und sich zu fragen „Was habe ich gerade gelesen?“ oder eine Frage dazu zu beantworten. Das Raster kann man auch nachahmen, indem man auf einer Buchseite an drei Stellen eine Markierung macht oder ein Pickerl aufklebt.
Oft stören Kinder mit ADHS, weil ihr Gehirn in einen Müdigkeitsmodus kommt und etwas braucht, das sie aufweckt. Am besten ist es, wenn man es schafft, dem zuvorzukommen. Wenn man gerade keinen Aufmerksamkeitszünder findet, ist es wichtig, regelmäßig Pausen zu machen. Wenn man die Möglichkeit hat, kann man den idealen Pausenrhythmus folgendermaßen ermitteln: Man beobachtet das Kind beim Lesen und misst die Zeit, bis es typischerweise die Aufmerksamkeit verliert. Wenn das meist nach etwa 20 Minuten passiert, dann führt man standardmäßig nach 17 Minuten eine kleine Pause ein, zum Beispiel von drei Minuten. So hakt man nicht erst dann ein, wenn das Kind bereits die Konzentration verloren hat, frustriert und müde ist, sondern schon davor, wenn ihm das Lesen noch Spaß macht und die Spannung noch da ist.
Lesen Sie auch: Mehr über delinquentes Verhalten bei Kindern erfahren
Die Rolle des Selbstvertrauens
Das ist ein ganz wichtiges Thema, aber leider auch traurig: Eine Hochrechnung hat gezeigt, dass ein zehnjähriges Kind mit ADHS schon 20.000 Kritiksätze mehr gesagt bekommen hat als ein Kind ohne ADHS. Das muss gar keine riesengroße Kritik sein, aber kleine Signale zwischendurch: „Seid bitte still - auch du, Miriam!“ oder „Du brauchst wieder eine Extraeinladung.“. Das wirkt sich extrem aufs Selbstbewusstsein aus. Häufig bekommen sie zu hören: „Du bist ja nicht dumm, du könntest das schon. Du musst dich nur mehr bemühen.“ Dabei bemühen sich die Menschen mit ADHS ganz besonders, viele strengen sich bis zur Erschöpfung an, um Dinge so hinzukriegen, wie das Umfeld, der Schulalltag sie erfordern. Ihr Gehirn macht es ihnen einfach schwerer, sie müssen sich für dasselbe Ergebnis viel mehr anstrengen als ihre Mitmenschen ohne ADHS.
Kinder mit ADHS bekommen also oft schon sehr früh den Eindruck, dass sie schlechter sind als andere, dass sie das ohnehin nicht hinkriegen. Das hat auch aufs Lesen einen großen Einfluss. Wenn ich nicht mehr davon ausgehe, dass ich das hinkriegen kann, wird es viel schwerer.
Hier können Lehrkräfte einen ganz entscheidenden Unterschied machen. Sie können ermutigen und auch positives Feedback geben. Am besten passiert das möglichst spezifisch: Wo hat sich das Kind besonders angestrengt? Wo ist ihm etwas besser gelungen als gestern? In welchen Bereichen kann es etwas besser als andere?
Text-to-Speech-Funktionen
Wenn Kinder sich schwer tun mit dem Lesen, ist es vielleicht verlockend, auf Text-to-Speech-Funktionen zurückzugreifen. Das hängt davon ab. Wenn es gerade wichtig ist, dass das Kind den Text inhaltlich versteht und ihm Hören leichter fällt als Lesen, ist das natürlich möglich. Aber als Kind ist es natürlich trotzdem wichtig, ins Lesen reinzukommen, eine Leseroutine zu finden und gut zu lernen, wie mir Lesen leicht fällt und Spaß macht.
Die Bedeutung einer Diagnose
Ich finde, ja! Man muss das natürlich nicht machen, aber es ist schon aus verschiedenen Gründen sinnvoll. Vor allem hilft es, zu verstehen, warum manches so schwer fällt. Man bekommt Antworten, Erklärungen, aber auch vielfältige Hilfestellungen und Anleitungen. Es gibt schon so viele Erfahrungswerte, was anderen Menschen mit ADHS hilft. Davon kann man sich eine Menge abschauen.
Ein zehnjähriges Kind mit ADHS hat schon 20.000 Kritiksätze mehr gesagt bekommen als ein Kind ohne ADHS.
Neurodivergenz verstehen
Heutzutage spricht man oft von Neurodivergenz - ADHS ist ein Unterbereich davon. Ich erkläre das mal anhand eines Beispiels. Vieles funktioniert bei vielen Menschen ähnlich. Ein warmes Bad nach einem anstrengenden Arbeitstag tut vielen Menschen gut. Da gibt es eine gehäufte Ähnlichkeit. Aber es gibt auch Menschen, die da anders funktionieren, die ein Bad in so einer Situation gar nicht entspannen würde. Diese Unterschiede entstehen in unserem Gehirn. Dabei spricht man von Neurodiversität. (Neuro- meint Nerven und Gehirn, Diversität ist die Vielfalt, das heißt also Vielfalt in unseren Gehirnen.)
All unsere Gehirne funktionieren unterschiedlich, aber es gibt gehäufte Ähnlichkeiten. Manche Menschen sind eben nicht Teil dieser Häufung, ihre Gehirne reagieren anders als die meisten anderen auf bestimmte Situationen. Bei diesen Menschen spricht man von Neurodivergenz, also Abweichung in der Neurologie.
Weitere Tipps und Strategien
- Schreiben Sie eine Liste, was Ihr Kind besonders gut kann.
- Schließen Sie bei Chaos die Zimmertür Ihres Sohnes oder Ihrer Tochter und ignorieren Sie es kurzzeitig.
- Wenn nichts mehr geht, dann gehen Sie. Keep cool!
- Manchmal ist es nicht leicht, Abstand zu gewinnen und Optimismus und Humor zu behalten.
- Lassen Sie Ihr Kind ein eigenes Bild für seine ADHS suchen.
- Bewerten Sie es nicht, sondern nutzen Sie es in jedem Fall, um einander näherzukommen und miteinander ins Gespräch zu kommen.
Musik und Bewegung
Informationen lassen sich allerdings im Alpha-Bereich mit acht bis dreizehn Hertz noch besser verarbeiten. Kleine Kinder befinden sich noch relativ häufig in diesem entspannten Zustand - je älter man wird, desto schwerer wird es, die Anspannung loszulassen. Und hier kommt die Musik ins Spiel: Signale im 10 Hertz-Bereich unterstützen die Gedächtnisleistung. Je nach Geschmack kann das von klassischer Musik bis zu Lounge-Musik alles sein, allerdings bitte nicht allzu laut. Das Gehirn passt sich dann automatisch an die Frequenz an.
Selbst bei ADHS-Kindern kann Sport massiv weiterhelfen: Bei ausreichender Bewegung kommt es zu einer unmittelbaren Verbesserung der Symptomatik. Schon kurzfristige Interventionen, bei den Kinder eine halbe Stunde am Laufband verbrachten[1] oder sich zwanzig Minuten aerob bewegten [2], beweisen ein besseres Abschneiden bei Tests und eine höhere Aufmerksamkeit.
[1] Medina, J. A., Netto, T. L., Muszkat, M., Medina, A. C., Botter, D., Orbetelli, R., ... & Miranda, M. C. (2010). Exercise impact on sustained attention of ADHD children, methylphenidate effects.
[2] Pontifex, M. B., Saliba, B. J., Raine, L. B., Picchietti, D. L., & Hillman, C. H. (2013). Exercise improves behavioral, neurocognitive, and scholastic performance in children with attention-deficit/hyperactivity disorder.
Definition und Merkmale von ADHS
Eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bzw. Aufmerksamkeitsstörung - auch als Zappelphilipp-Syndrom oder Hyperkinetisches Syndrom (HKS) bekannt - ist eine ernst zu nehmende folgenschwere Erkrankung.
Merkmale einer Aufmerksamkeitsstörung
- Konzentrationsprobleme
- Leicht ablenkbar
- Können schlecht an einer Sache "dranbleiben"
- Sind sehr vergesslich und können unzuverlässig sein
- Fehlendes Strukturdenken
Was hilft?
Verschiedene kleinere Veränderungen können Ihrem Kind helfen, sich besser zu konzentrieren. Speziell für die Hausaufgaben sollte zum Beispiel ein aufgeräumter Arbeitsplatz zur Verfügung stehen, der wenig Ablenkungspotenzial bietet. Zudem sollten Störfaktoren wie zum Beispiel Handy und Fernseher ausgeschaltet werden und Pausen festgelegt werden. Aber auch spezielle Konzentrationsübungen können sinnvoll sein.