Misophonie: Was ist das, Ursachen und Behandlung

Zahnarztbohrer oder kratzende Gabeln auf dem Teller - wir alle kennen Geräusche, bei denen sich uns die Nackenhaare aufstellen. Für Menschen, die unter sogenannter Misophonie leiden, werden aber schon weniger aufdringliche Geräusche wie Schmatzen oder Kauen zur Qual. Der Begriff setzt sich aus den griechischen Wörtern "misos" für Hass und "phone" für Geräusch zusammen, er beschreibt den Hass auf ein spezifisches Geräusch.

Was ist Misophonie?

Misophonie ist eine chronische Störung, die gekennzeichnet ist durch eine selektive Reizsensitivität. Diese führt dazu, dass Betroffene vor allem auf repetitive, menschengemachte Geräusche, auch Trigger genannt, mit starker Abneigung, Irritation und Wut reagieren, welche auch zu behavioralen Reaktionen, wie Flucht- oder Vermeidungsverhalten führen können.

Unter Misophonie versteht man eine Überempfindlichkeit gegenüber Lauten. Wörtlich aus dem Griechischen übersetzt bedeutet der Begriff so viel wie "Hass auf Geräusche". Wobei sich die negativen Empfindungen "nicht gegen alle Geräusche gleichermaßen, sondern gegen klar abgegrenzte richten", erklärt Johannes Lanzinger, Klinischer und Gesundheitspsychologe in der auf Phobien spezialisierten Wiener Praxis Phobius.

Es muss kein lautes Schmatzen sein - hörbare Kau-, Schlürf- und Schluckgeräusche reichen schon aus, ebenso wie Summen, Pfeifen, Räuspern und andere Geräusche, die aus Mund, Nase und Rachen kommen. Doch nicht nur Geräusche, die andere Menschen mit ihrem Körper machen, auch das Ticken einer Uhr, das Brummen eines Kühlschranks und das Rascheln und Klappern von Gegenständen, können bei von Misophonie Betroffenen negative Reaktionen auslösen.

Schmatzen, Schnalzen oder Atmen - praktisch alle Körpergeräusche können Auslöser sein. Manchmal auch das Klackern eines Kugelschreibers oder Gesten wie das Übereinanderschlagen der Beine. Die meisten Betroffenen ertragen aber keine Kaugeräusche.

Lesen Sie auch: Definition von Misophonie

Misophonie sei mehr als nur Ärger über bestimmte Geräusche, ergänzt Koautorin Jane Gregory von der Universität Oxford: „Es geht darum, dass man sich gefangen und hilflos fühlt, wenn man diesen Geräuschen nicht entfliehen kann.

Wie äußert sich Misophonie?

Der 17-jährige Michael konnte Essgeräusche nicht ertragen. Kauen und Schmatzen lösten bei ihm unbändige Wut aus. Seine Familie und Freunde bat er darum, nicht in seiner Gegenwart zu essen. Taten sie es doch, beschimpfte er sie. So ist es in einer wissenschaftlichen Fallstudie nachzulesen, die 2017 veröffentlicht wurde. Michael zog sich immer mehr zurück - an gemeinsame Familienessen waren nicht mehr zu denken.

Während andere diese Alltagsgeräusche oft gar nicht wahrnehmen oder zumindest nicht als besonders störend empfinden, lösen sie bei den Betroffenen Ärger, Wut oder Ekel aus. "Das kann so weit gehen, dass Betroffene sogar aggressiv oder handgreiflich werden oder sich sozial völlig zurückziehen", sagt Röpke.

Der emotionale Stress, den Betroffene dabei erleben, lässt sich sogar objektiv messen: Ihr Herz schlägt schneller, der Blutdruck steigt. Auch Symptome wie Schweißausbrüche und Übelkeit sind keine Seltenheit.

Betroffene fühlen sich zudem gefangen und hilflos, wenn sie dem Geräusch nicht ausweichen können.

Alltagsgeräusche empfinden die Betroffenen nicht nur subjektiv als unangenehm, sie führen auch zu körperlichen Reaktionen wie Herzjagen, Blutdruckerhöhung, Schweißausbrüchen, Verspannungen im Schulter- und Nackenbereich, Angst oder Unruhe. Viele Betroffene ziehen sich sozial zurück und meiden Aktivitäten in der Öffentlichkeit, um sich möglichst wenig unangenehmen Geräuschen auszusetzen.

Ursachen von Misophonie

Die Ursachen der Sensibilitätsstörung sind bis heute nicht ausreichend erforscht. "Es gibt offenbar eine genetische Prädisposition", sagt Röpke. "Man erbt einfach die Veranlagung dazu." In einer Studie fanden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der University of Newcastle heraus, dass bei Misophonie-Betroffenen eine Störung von emotionalen Kontrollmechanismen im Gehirn vorliegt. Warum jedoch die eine Person mit dieser Veranlagung an Misophonie erkrankt und eine andere nicht, ist bislang unklar.

Gene bis traumatische EreignisseÜber die Entstehung ist vieles unklar. "Wir gehen von einer genetischen Komponente aus", sagt Lanzinger, "wahrscheinlich spielen Lernmechanismen und traumatische Erlebnisse eine Rolle".

Während Psychologen das Phänomen schon lange kennen, wurde der Begriff "Misophonie" erst Anfang des 21. Jahrhunderts geprägt. "Seither erscheinen immer wieder Forschungen zum Thema, insgesamt ist die Studienlage nach wie vor dünn", weiß Lanzinger.

Tritt Misophonie aber unabhängig von einer psychiatrischen Erkrankung auf, könne man noch sehr wenig über mögliche Ursachen sagen. „Es wird vermutet, dass es biologische Faktoren haben könnte, aber belegt ist es bisher nicht“, so Wancata.

In der Klinik, an der Röpke arbeitet, trete Misophonie gelegentlich begleitend zu anderen Erkrankungen wie Depression, Angststörungen oder Posttraumatischer Belastungsstörung auf.

Belastung für Familie und Partnerschaft

Zur Belastung wird Misophonie dann nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für Angehörige. Auffällig ist, dass sich die Geräuschempfindlichkeit besonders oft auf nahestehende Personen konzentriert. Nach Ansicht von Röpke hängt das womöglich damit zusammen, dass die Misophonie häufig bereits im Kindes- und Jugendalter auftritt - also dann, wenn die Betroffenen eng mit ihrer Familie zusammenleben. Wenn das Gegenüber beim Essen regelmäßig explodiert, sobald sich die Gabel dem Mund nähert, leidet die Beziehung zwangsläufig. Angehörige fühlen sich durch die Zurückweisung gekränkt und reagieren selten mit Verständnis. Bei den Betroffenen löst ihre Reaktion wiederum Scham- und Schuldgefühle aus. Beiden Seiten ist oftmals nicht bewusst, dass die Beschwerden Krankheitswert haben. "Viele verbuchen die Misophonie einfach als Überreaktion, als komische Eigenart", sagt Röpke.

Folge- und Begleiterkrankungen

"Unbehandelt kann eine schwere Misophonie zu Folge- und Begleiterkrankungen führen."Stefan Röpke

Ist der Leidensdruck groß, sollten sich Betroffene Hilfe suchen. Denn unbehandelt kann eine schwere Misophonie zu Folge- und Begleiterkrankungen führen. "Suchtpatientinnen und -patienten haben uns berichtet, dass sie auch deshalb angefangen haben, Alkohol zu trinken, um das Geräusch weniger zu hören", sagt Röpke. "Daraus kann also auch eine Suchterkrankung werden." Auch soziale Ängste oder Depressionen können die Folge sein.

Wie lässt sich Misophonie behandeln?

Aber was lässt sich gegen Misophonie tun? Im Gegensatz zu Phobien, bei denen häufig empfohlen wird, sich dem Auslöser, auch Trigger genannt, zu stellen, führt das bei Misophonie häufig zu einem gegenteiligen Effekt: Die Reaktion darauf wird eher verstärkt und neue Trigger können hinzukommen. Röpke rät dazu, sich vor den Geräuschen zu schützen, ohne sich komplett aus dem Leben zurückzuziehen. "Nutzen Sie Kopfhörer oder Ohrstöpsel, wenn Sie das Schmatzen Ihres Sitznachbarn im Zug wütend macht."

Im häuslichen Rahmen sei es zudem wichtig, Bereiche zu schaffen, in denen Betroffene vor diesen Geräuschen geschützt seien und zur Ruhe kommen könnten. Beim Familienessen kann es manchen Betroffenen helfen, wenn Musik im Hintergrund läuft.

"Liegt eine Grunderkrankung wie eine Depression vor, ist es zunächst wichtig, diese zu behandeln", sagt Röpke. Häufig bessert sich dadurch auch die Misophonie. "Es gibt auch die Möglichkeit, solche Geräusche kognitiv umzudeuten", erklärt der Experte. "Oder lernen Sie, den Fokus nicht auf das Geräusch zu legen: Achten Sie beim Essen auf das Gespräch und nicht auf das Schmatzen", sagt Röpke. Auch Techniken zur Emotionsregulation könnten helfen, mit den negativen Gefühlen umzugehen. Um das zu erlernen, brauchen Betroffene allerdings Unterstützung, etwa in Form einer kognitiven Verhaltenstherapie. Der 17-jährige Michael wurde an der Universität Boulder in den USA mit einem gezielten Achtsamkeitstraining behandelt. Nach sechs Monaten seien die Symptome deutlich zurückgegangen: Michael habe im Alltag keine nennenswerten Schwierigkeiten mehr, heißt es in der Studie.

Eine Therapie zielt darauf ab, Betroffenen Stressbewältigungsstrategien und Entspannungstechniken näherzubringen. Ein wichtiger Teil der therapeutischen Arbeit ist, das Vermeidungsverhalten - viele Betroffene meiden bekannte Triggergeräusche aus Angst - abzubauen. "Weil damit die Fähigkeit, mit dem Auslöser umzugehen, abgebaut wird." Im geschützten Rahmen werden Patientinnen und Patienten ermutigt, sich Geräuschen zu stellen und einen Umgang damit einzuüben.

Eine generelle Empfehlung bei der Behandlung sei schwierig, sagt Röpke. "Man muss verschiedene Ansätze ausprobieren, um herauszufinden, was der Person im Einzelfall am besten hilft."

Abgrenzung zu anderen Formen von Geräuschempfindlichkeit

Von der Hyperakusis zu unterscheiden sind die Misophonie (= Überempfindlichkeit gegenüber spezifischen Geräuschen, etwa Kratzen der Kreide auf der Tafel) und die Phonophobie (= Angst vor oder Abneigung gegenüber bestimmten Geräuschen).

Ebenfalls abzugrenzen ist das Recruitment. Darunter versteht man die bei manchen Menschen mit Innenschwerhörigkeit auftretende Empfindlichkeit gegenüber Geräuschen in jenem Frequenzbereich, der vom Hörverlust (am meisten) betroffen ist: Ab einem bestimmten Lautstärkepegel im gestörten Frequenzbereich wird der Schall übermäßig laut wahrgenommen, weil der Körper zum Ausgleich des Hörverlusts benachbarte Hörzellen rekrutiert. Das Recruitment ist eine Begleiterscheinung der Innenohrschwerhörigkeit und hat nichts mit der allgemeinen Hyperakusis zu tun.

Studienlage

Inzwischen geht man davon aus, dass 20 Prozent der Bevölkerung Probleme mit gewissen Geräuschen haben. "Von rund sechs Prozent wird Misophonie im Alltag als einschränkend erlebt, rund ein Prozent hat so massive Probleme, dass man von einer Störung spricht", sagt Lanzinger.

Für eine aktuelle Studie des King’s College in London wurden 768 Personen gebeten, ihre emotionale Reaktion auf bestimmte Geräusche und deren Intensität auf einer Zehnpunkteskala zu beschreiben. Das Ergebnis: Die häufigste Reaktion auf einen Trigger, also ein Misophonie auslösendes Geräusch, ist Ärger.

Die Studie aus England ergab jedenfalls, dass nur ein kleiner Teil der Probandinnen und Probanden den Begriff „Misophonie“ vor der Umfrage überhaupt kannte. Und das bezeichnet Studienleiterin Silia Vitoratou als eine der wichtigsten Erkenntnisse aus der Studie: „Es bedeutet, dass die meisten Menschen, die von Misophonie betroffen sind, keinen Namen dafür haben, um zu beschreiben, was sie erleben.“

Tabelle: Vergleich von Geräuschempfindlichkeiten

Form der GeräuschempfindlichkeitBeschreibungEmotion
MisophonieÜberempfindlichkeit gegenüber spezifischen GeräuschenAbscheu, Ekel, Wut
PhonophobieAngst vor oder Abneigung gegenüber bestimmten GeräuschenAngst
HyperakusisKrankhafte Überempfindlichkeit gegenüber Schall und Geräuschen normaler LautstärkeAbneigung gegen alle lauten Geräusche

tags: #misophonie #was #ist #das #ursachen #behandlung