Das Delir, auch als Delirium bekannt, ist eine akute organisch verursachte Psychose und bezeichnet ein ätiologisch unspezifisches Syndrom. Es ist durch Störungen des Bewusstseins mit akutem Beginn und undulierendem Verlauf gekennzeichnet, mit speziellem Augenmerk auf die qualitative Bewusstseinsstörung im Sinne von Aufmerksamkeitsstörung und Verwirrtheit.
Veränderungen der kognitiven Funktionen, der Wahrnehmung, der Psychomotorik sowie Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus sind weitere Symptome. Bei der Kodierung des Delirs unterscheidet man zwischen dem Delir ohne Demenz (ICD-10: F05.0) oder bei Demenz (F05.1), dem Delir mit gemischter Ätiologie (zum Beispiel das postoperative Delir, F05.8) sowie dem Delir „nicht näher bezeichnet“ (F05.9).
In der klinischen Praxis wird das Delir gleichzeitig mit Begriffen wie dem Durchgangssyndrom, dem organischen Psychosyndrom oder der einfachen Verwirrtheit gleichgesetzt. Die daraus resultierende diagnostische Unschärfe verhindert präventive wie auch kurative Maßnahmen.
Historischer Kontext
Delirante Zustandsbilder wurden bereits in der Antike - so auch von Hippokrates von Kos - beschrieben: „Bei akutem Fieber, Lungenentzündung, Meningitis beobachte ich, dass die Patienten … mit den Händen in der Luft umherfuchteln, auf der Bettdecke Flusen zupfen und Spreu von der Wand pflü - cken. Alle diese Zeichen sind ungünstig, im Grunde tödlich.“
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden psychopathologische Phänomene im Rahmen von Infektionserkrankungen nicht nur nach dem Erreger differenziert betrachtet, sondern auch nach dem Zeitpunkt des Auftretens.
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Karl Bonhöffer entwickelte die Theorie des exogenen Reaktionstypus. Bonhöffer unterstrich, dass die „akuten Geistesstörungen“ im Rahmen körperlich bedingter Erkrankungen ihrem Erscheinungsbild nach anders sind als jene „Geistesstörungen“ die ohne körperliche Erkrankungen auftreten.
Eugen Bleuler führte erstmals den Begriff des Psychosyndroms ein und unterschied zwischen hirnlokalem und hirndiffusem Psychosyndrom, wobei die wichtigste Unterscheidung in der Reversibilität bzw. Irreversibilität lag.
Hans Heinrich Wieck trennte „körperlich begründbare Psychosen“ ähnlich wie Kurt Schneider in reversible und irreversible Syndrome (organische Defektsyndrome). Die reversiblen Syndrome wurden je nach „Ausmaß der seelischen Störung“ als Durchgangssyndrome zusammengefasst.
Peter Berner beschrieb ein mehrdimensionales pathogenetisches Modell, in dem er in der Gruppe der „körperlich begründbaren Störungen“ eine Unterscheidung zwischen dem akuten und dem chronischen exogenen Reaktionstyp vornahm. Wie Wieck verwendete auch er für den akuten exogenen Reaktionstyp den Begriff der Funktionspsychose.
Epidemiologie
Eine Metaanalyse zeigte eine Prävalenz des Delirs von 14,9 % im Allgemeinkrankenhaus. Die Prävalenz derartiger Delirien liegt bei stationären älteren Patienten in Abhängigkeit der Grunderkrankung bei 10 bis 40 %.
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Ein Delir ist die häufigste Komplikation beim hospitalisierten, über 65-jährigen Patienten und tritt in dieser Altersgruppe bei etwa 15 Prozent aller Patienten an internistischen Abteilungen und bei 30 bis 40 Prozent der Patienten an chirurgischen Abteilungen auf.
Beinahe 40 Prozent aller Patienten nach einer Operation wegen Hüftfraktur zeigen Symptome eines Delirs. Eine hohe Inzidenz zeigt sich auch bei Patienten nach herzchirurgischen Operationen.
Risikofaktoren und Ursachen
Das Delir entsteht in der komplexen Interaktion zwischen prädisponierenden und auslösenden Faktoren (exogenen Noxen). Der Pathophysiologie des Delirs liegt das sog. Schwellenkonzept zugrunde.
Diesem Konzept zufolge steigt die Wahrscheinlichkeit, ein Delir zu entwickeln, mit dem Ausmaß der Vorbelastung (prädisponierende Faktoren), welche meist als zerebrale Vorschädigung verstanden wird. Vorbestehende Demenz ist die von epidemiologischen Studien am konsistentesten erfasste Vorbelastung.
Mit steigender Vorschädigung sinkt der notwendige Schweregrad des Auslösers (auslösende Faktoren). Ebenso wie nur ein Auslöser ausreichen kann, können auch Kombinationen verschiedener Auslöser an der Enstehung eines Delirs beteiligt sein.
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Häufige Auslöser eines Delirs sind Infektionen wie Harnwegsinfekte und Pneumonien, Alkoholentzüge und vorangegangene Operationen. Auslöser können sowohl auf das zentrale Nervensystem (ZNS) begrenzt oder systemisch sein.
Tabelle 1: Potenzielle Delirauslöser
| ZNS | Metabolisch | Kardiovaskulär | Infektiologisch | Intensivmedizin (ICU) | Toxisch |
|---|---|---|---|---|---|
| Anfallsgeschehen | Hypo/Hyperglykämie | Hypo/Hypertonie | Pneumonie | Post-operativ | Alkohol |
| (Meningo)Enzephalitis | Hyperkortisolismus | Myokardinfarkt | Harnwegsinfekt | Post-traumatisch | Sedativa |
| Tumor | Hepatische Enzephalopathie | Herzrhythmusstörungen | Sepsis | Beatmung | Stimulanzien |
| Blutung | Urämie | Herzinsuffizienz | Virale Infekte | Narkotika/Sedativa | Halluzinogene |
| Autoimmunologische Geschehen | Elektrolytentgleisung | Dehydratation | Sensorische Deprivation | Opiate | Antibiotika |
Besondere Beachtung verdient die Medikamentenanamnese. So sind gerade Medikamenteninteraktionen und anticholinerge Nebenwirkungen bestimmter Präparate zu beachten.
Pathophysiologie
Das Delir stellt eine ätiologisch unspezifische Reaktion des Gehirns dar, nachdem unterschiedliche prädisponierende und auslösende Faktoren zur gleichen Symptomatik führen. Dieses Phänomen wird als zentrale Endstrecke bezeichnet und bezieht sich auf die Symptomatik und die neurobiologischen Veränderungen, die dieser zugrunde liegen.
Als neurobiologische Endstrecke des Delirs wird eine erhöhte dopaminerge und verminderte acetylcholinerge Funktion angenommen, wobei Glutamat und GABA auch eine Rolle spielen dürften. Demnach werden prodopaminerge und anticholinerge Substanzen als delirogen angesehen.
An der Aktivierung der gemeinsamen Endstrecke dürften eine gestörte Stressantwort und immunologische Prozesse beteiligt sein. Nachdem neurodegenerative Prozesse auch mit erhöhter systemischer Inflammation einhergehen, ist es vorstellbar, dass das Immunsystem eine Brücke zwischen Vorschädigung und Auslöser beim Delir darstellt.
Diagnose
Die Diagnose eines Delirs ergibt sich aus der Zusammenschau der klinischen Symptomatik und dem Vorhandensein einer plausiblen organischen Ursache, die jedoch nicht immer eindeutig festgestellt werden kann.
Die diagnostischen Kriterien des Delirs im ICD-10 sind eine Bewusstseinsstörung mit verminderter Aufmerksamkeit, eine globale Störung der Kognition (Verwirrtheit, Merkschwäche), Veränderung der Wahrnehmung mit Verkennungen und Wahnphänomenen, Veränderungen der Psychomotorik (hypo- und hyperkinetisches Delir), Schlafstörungen und Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus, sowie affektive Störungen.
Das zentrale Symptom der Bewusstseinsstörung differenziert das Delir von dementiellen Erkrankungen, bei denen das Bewusstsein prinzipiell, mit Außnahme von Spätstadien, intakt ist.
Entsprechend ICD-10 ist die Dauer eines Delirs mit maximal sechs Monaten begrenzt. Bei chronischen Verlaufsformen ist allerdings die Abgrenzung zur inzipienten Demenz von besonderer Bedeutung.
Basierend auf der von den PatientInnen präsentierten Auslenkung der Psychomotorik wird zwischen hypokinetischen oder „stillen“ Delirien, hyperkinetischen Delirien und gemischten Verlaufsformen unterschieden.
Die Literatur zeigt, dass systematische Screenings mit validierten Methoden für die effektive Erfassung des Delirs im klinischen Setting notwendig sind. Routinescreenings von RisikopatientInnen bzw. in Risikosituationen werden somit empfohlen.
Als diagnostisches Instrument etablierte sich die CAM (Confusion Assessment Method) zur standardisierten Bewertung und Dokumentation des Delirs, geeignet sowohl für die hyperals auch die hypomotorische Form.
Differentialdiagnose
Die wichtigsten Differentialdiagnosen des Delirs sind die Demenz und andere Formen des OPS. Delir und Demenz unterscheiden sich durch das beim Delir gestörte und bei der Demenz intakte Bewusstsein und typischerweise durch den Verlauf, der bei der Demenz selten so deutlich unduliert wie beim Delir.
Andere Formen des OPS, wie beispielsweise die organisch affektive Störung, die organische Halluzinose oder die organisch wahnhafte Störung, lassen sich anhand der jeweils spezifischen Symptomatik klar vom Delir abgrenzen.
Behandlung
In der Behandlung deliranter Zustandsbilder sind in erster Linie die zugrunde liegenden Ursachen zu erfassen und entsprechende therapeutische Schritte einzuleiten.
Daher sollte sich die Pharmakotherapie in erster Linie auf die Ursache (falls diese bekannt ist) fokussieren. Die Psychopharmakatherapie ist indiziert, um die generellen Symptome des Deliriums auch Ätiologie-übergreifend medikamentös therapieren zu können bzw. um die Dauer und Intensität der Verwirrung zu minimieren.
Pharmakologische Therapie
Antipsychotika, deren Wirkmechanismus einen Dopamin-Rezeptor-Antagonismus beinhaltet, sind sowohl für die akute Therapie des Delirs als auch zur Prävention die klinisch relevanteste Substanzgruppe, in Übereinstimmung mit der Annahme, dass ein Dopaminüberschuss an der Pathogenese des Delirs beteiligt ist.
Der Einsatz von Antipsychotika beim Delir wird in der Regel mit niedrigeren Dosen als bei schizophrenen Erkrankungen empfohlen. Nach Finden der Zieldosis sollte die Therapie nach Symptomfreiheit noch sieben bis zehn Tage fortgeführt werden.
Nicht nur das hypermotorische Delir bedarf dieser antipsychotischen Therapie, auch das hypomotorische Delir, welches oftmals schwerer zu diagnostizieren ist, soll - neben der Behandlung der auslösenden organischen Grunderkrankung - adäquat antipsychotisch behandelt werden.
Aufgrund des verbesserten Nebenwirkungsprofils kommen heute vermehrt Antipsychotika der zweiten Generation, wie Aripiprazol, Amisulprid, Olanzapin, Quetiapin und Risperidon zur Behandlung von Delirien zum Einsatz; dies wird durch positive randomisierte, kontrollierte klinische Studien unterstützt.
Risperidon 1-4mg/Tag bietet in der Fachliteratur bessere oder gleichwertige Effizienz im Vergleich zu anderen Antipsychotika oder zum schlechter verträglichen Haloperidol (extrapyramidal motorische Symptome, EPMS bzw. Parkinsonoid).
Haloperidol hat mit Dosierungsrichtlinien von 1-10mg pro Tag eine Zulassung zur Behandlung des akuten Delirs. Andere Antipsychotika stehen in der Behandlung des Delirs außerhalb des durch die Arzneimittelbehörden zugelassenen Gebrauchs („off label“).
Quetiapin stellt eine valide Option beim deliranten Patienten dar. Die Substanz hat eine relativ kurze HWZ von etwa sieben Stunden und soll daher zweibis dreimal täglich dosiert werden. Bezüglich Sedierungsgrad und möglicher Hypotonie ist vor allem bei älteren Patienten Vorsicht geboten.
Aripiprazol ist in der antipsychotischen Behandlung von Delirien eine Alternative, die im Unterschied zu Haloperidol, Risperidon oder Quetiapin noch wenig angewendet wird.
Amisulprid sollte zur antipsychotischen Behandlung des Delirs mit mindestens 100mg pro Tag dosiert werden, weil niedrige Dosen über reine Aktivierung präsynaptischer Autorezeptoren zu verstärkter Dopaminausschüttung führen können.
Pregabalin (Tagesdosen von 150mg vor dem Eingriff und bis fünf Tage post OP) konnte die Beatmungsdauer, Opioid-Dosen und Delirien (erfasst mittels CAM-ICU-Scores) bei Älteren nach Herzoperationen reduzieren.
Cholinesterasehemmer, wie Donezepil und Rivastigmin, wurden wiederholt zur Therapie des Deliriums in randomisierten klinischen Studien geprüft und mit negativen Ergebnissen publiziert. Daher kann keine Empfehlung für den klinischen Einsatz gegeben werden.
Eine randomisiert kontrollierte Studie zeigte, dass die Dexamethason-Gruppe am ersten postoperativen Tag weniger Delirien im Vergleich zur Placebogruppe (16,3% vs. 38%, p=0,03) und auch eine verkürzte stationäre Aufenthaltsdauer verzeichnete.
Studien konnten mit 5mg Melatonin abends perioperativ oder mit 0,5mg abends in gerontologischer Indikation positive Effekte hinsichtlich der Delirentwicklung zeigen.
Nicht-pharmakologische Interventionen
Wichtige nicht medikamentöse Interventionen beinhalten Hilfestellungen bezüglich kognitiver Einschränkungen, Schlafdeprivation, Immobilität, visueller und auditiver Funktionseinschränkungen sowie Dehydratation: Orientierung unterstützen, Schlafprotokolle und rhythmisierende Maßnahmen, Gehhilfen, Hörund Sehhilfen, ausreichend Flüssigkeit.
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