ICD-10 und Autismus-Spektrum-Störung: Definition und Kriterien

Bei der Autismus-Spektrum-Störung, abgekürzt ASS, handelt es sich um eine neurologische Besonderheit, welche die Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitung sowie die soziale Kommunikation beeinträchtigt. Jeder (autistische) Mensch ist einzigartig. Da es sich um ein großes Spektrum handelt, ist es gar nicht so einfach zu erkennen, was mit der Autismus-Spektrum-Störung (ASS) gemeint ist. Welche Gemeinsamkeiten es innerhalb dieses Spektrums gibt und wie man Kinder und Jugendliche mit ASS unterstützen kann, soll in diesem Artikel behandelt werden.

Definition der Autismus-Spektrum-Störung (ASS)

Die ASS ist gekennzeichnet durch anhaltende Defizite in der Fähigkeit, wechselseitige soziale Interaktionen zu initiieren und soziale Kommunikation aufrechtzuerhalten. Zudem charakterisiert sie eingeschränkte, sich wiederholende und unflexible Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten, die für das Alter und den soziokulturellen Kontext der Person eindeutig untypisch oder exzessiv sind. Schließlich kommen bei vielen Ausprägungen noch Wahrnehmungsbesonderheiten dazu, wie z.B., dass es zu Reizüberflutungen kommt oder auf bestimmte Reize besonders empfindlich reagiert wird. Diese Besonderheiten können zu Beeinträchtigungen in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen Bereichen führen, die, je nach sozialem, erzieherischem oder anderem Kontext, variieren. Sie sind durchgängig und in allen Bereichen beobachtbar.

Personen, die dem Spektrum angehören, weisen also ein breites Spektrum an intellektuellen Funktionen und Sprachfähigkeiten auf, weshalb auch von Neurodiversität gesprochen wird.

Entstehung und Ursachen

ASS beginnt meist in der frühen Kindheit bzw. im Laufe der Entwicklung. Symptome sind oft erst später erkennbar, wenn die sozialen Anforderungen die Fähigkeiten übersteigen. Dies kann z.B. beim Schuleintritt der Fall sein. Ursachen für die Autismus-Spektrum-Störung sind sowohl genetische als auch Umweltfaktoren.

Expertinnen und Experten sehen es als gesellschaftliche Aufgabe, ASS als neurologische Vielfalt und nicht als Störung zu sehen, da nicht jede Änderung der Norm eine Krankheit ist. Autistische Menschen haben eine andere neurologische Reife und Funktion, sind aber nicht per se krank. Diese, und vor allem extreme Normvarianten gehen allerdings mit Krankheitsrisiken und Problemen im Alltag einher. Daher sollen sich Betroffene, deren Angehörige, sowie die Gesellschaft mit den Stärken und Schwächen auseinandersetzen, die es unweigerlich gibt.

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Unterschiedliche Typen (ICD-10)

Derzeit unterscheidet das ICD-10 (10. Beim frühkindlichen Autismus bleibt die Sprache aus oder setzt erst viel später ein. Er manifestiert sich also bereits vor dem 3. Lebensjahr. Der atypische Autismus unterscheidet sich vom frühkindlichen Autismus entweder durch das Alter bei Beginn der Auffälligkeiten (Manifestation nach dem 3. Lebensjahr) oder dadurch, dass nicht alle Kriterien eines frühkindlichen Autismus erfüllt sind. Das Asperger-Syndrom wird mit dem Begriff „hochfunktionaler Autismus“ gleich verwendet. Er unterscheidet sich von anderen Formen durch fehlende kognitive oder sprachliche Entwicklungsverzögerungen.

Asperger-Syndrom

Da der „hochfunktionale Autismus“ immer häufiger diagnostiziert wird, möchten wir auf typische Charakteristika eingehen. Dabei ist wichtig zu beachten, dass nicht jede:r mit dieser Diagnose alle diese Merkmale zeigt und nicht jede:r, die oder der diese Charakteristika aufweist, die Kriterien für eine Diagnose erfüllt. Menschen mit Asperger-Syndrom sind individuell und weisen oftmals Einschränkungen in folgenden Bereichen auf:

  • Soziale Interaktion: Menschen mit Asperger-Syndrom setzen im Gespräch wenig Gestik und Mimik ein, der Blickkontakt ist eher flüchtig und die gemeinsame Aufmerksamkeit (joint attention) ist eingeschränkt. Manche Betroffene fühlen sich dadurch dann einsam und isoliert.
  • Kognitive Empathie: Betroffene haben Schwierigkeiten, nonverbale Signale (Körpersprache, Gestik, Mimik) zu erkennen.
  • Sprache: Die Sprachentwicklung kann „eruptiv“ sein; das heißt, dass bspw. bis zum 2. Lebensjahr gar nicht gesprochen wird und dann aber gleich in ganzen Sätzen. Die Sprachmelodie wirkt oft monoton, bildhafte Ausdrücke werden nicht verstanden und die Sprache wird kaum bis gar nicht an den sozialen Kontext angepasst. Die Sprache wirkt außerdem durch eine pedantische und repetitive Redeweise auffällig. Oft besteht auch kein Interesse an Smalltalk.
  • Interessen & Aktivitäten: Betroffene weisen häufig Spezialinteressen von ungewöhnlicher Intensität und Inhalt auf; d.h. dass es auch Themen sein können, welche Kinder üblicherweise nicht interessieren (Buslinien, Flaggen, etc.). Sie beschäftigen sich damit intensiv und eigenen dazu Wissen an, sodass sie darüber monologisieren können. Spezialthemen können wechseln, wobei Interessen überdurchschnittlich lange andauern. Das Spielverhalten zeichnet sich durch weniger Fantasiespiele aus. Beim Spielen bleiben sie außerdem oft für sich und „präsentieren“ ihre Errungenschaften nicht. Sie erwarten sich keine soziale Reaktion.
  • Wahrnehmung: Menschen mit Asperger-Syndrom zeigen oft auch Wahrnehmungsverarbeitungs-störungen mit den bekannten Über- und Unterempfindlichkeiten (z.B. Schwierigkeiten bei hohem Lärmpegel, Berührungen, Gerüche, visuelle Reize). Dies führt zu einer erhöhten Herausforderung, sich zu entspannen. Schreien und um sich schagen sind Versuche, dieser Situation zu entfliehen.
  • Gewohnheit & Spontanität: Die sogenannte „Kontextblindheit“ ist für alle Ausprägungen der ASS ein typisches Merkmal. Damit ist die relative Unfähigkeit gemeint, die eigenen Handlungen und Reaktionen angemessen flexibel auf den sozialen Kontext abzustimmen.

50% (Je nach Quelle 30-80%) haben auch eine Aufmerksamkeitsdefizit-(Hyperaktivität)-Störung (AD(H)S). Neben diesen Eigenschaften weisen viele Menschen mit ASS, unter anderem, auch oft die Stärke der Detailgenauigkeit auf. Es kann sein, dass z.B. Aufgaben eher langsam, dafür sehr genau durchgeführt werden. Außerdem sind viele mit einer ASS-Diagnose in Freundschaften und Beziehungen besonders loyal - zusätzlich dazu auch sehr ehrlich, weil sie oftmals kaum lügen können.

ICD-11: Keine Einteilung in unterschiedliche ASS-Typen mehr

In der neuesten Fassung des Klassifikationssystems ICD-11 (11. Fassung der Internationalen Statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der Weltgesundheitsorganisation), das bald Anwendung finden wird, gibt es keine Einteilungen in unterschiedliche ASS-Typen mehr. Viel mehr wird innerhalb des Spektrums zwischen Schweregraden der Einschränkungen der kognitiven Entwicklung und funktionaler Sprache unterschieden.

Nach der ICD-11 werden nun alle diese Diagnosen unter dem Titel Autismus-Spektrum-Störungen zusammengefasst. Für eine Diagnose sind dabei Einschränkungen in den beiden zentralen Bereichen ausschlaggebend: soziale Interaktion und Kommunikation sowie restriktive, repetitive und unflexible Verhaltensmuster und Interessen. Anstelle der spezifischen Subvarianten in der ICD-10 werden Autismus-Spektrum-Störungen in der ICD-11 nach dem zusätzlichen Vorliegen oder Fehlen einer Störung der Intelligenzentwicklung und nach der Schwere der Beeinträchtigung der funktionellen Sprache unterschieden. Aus einer Entwicklungsperspektive, die auch die Adoleszenz und das junge Erwachsenenalter einschließt, ist die nun neue Möglichkeit einer Diagnose nach dem dritten Lebensjahr besonders wichtig.

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Auch verdeutlicht die in den vergangenen Jahren aufgrund der COVID-Pandemie zugenommene soziale Isolation (subjektiv empfundene) persönliche soziale Defizite bei Jugendlichen. Zudem stellt sie junge Erwachsene vor soziale Herausforderungen. Für die „Digital Natives“ ist es die Norm, sich vorrangig im Internet zu Erkrankungen zu informieren. Nicht selten passiert es daher, dass sie noch vor einer Vorstellung in der Praxis mit Autismus-Konzepten in Kontakt kommen.

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