Die Rolle von Gender in der Psychotherapie: Dynamiken und Bewertungen

Welche Rolle das Geschlecht im psychotherapeutischen Prozess spielt, ist eine Frage, die sich viele Therapeut_innen schon gestellt haben mögen. Therapeut_innen, die mit weiblichen, männlichen oder auch mit weiteren Gender-Identitäten arbeiten, konstatieren, dass entlang der Gender-Zusammensetzung spezifische Dynamiken auftreten, die die therapeutische Beziehung und den Prozess einfärben.

In diesem Beitrag wird versucht, diese Phänomene anhand von qualitativen Daten aus Aussagen von Therapeut_innen darzustellen. Quantitative Daten aus einer Online-Umfrage von Patient_innen ergänzen das Bild.

Theoretische Grundlagen: Doing Gender

Den Phänomenen, die sich unter der Perspektive Gender auch im therapeutischen Prozess zeigen, kann man sich mit verschiedenen Theorien annähern. Dies sind neben den konzeptuellen Annahmen der einzelnen Therapieverfahren v. a. Theorien zu Frau- und Mannsein, zu Identitäten und Prozessen von Geschlecht und seiner Herstellung.

Als besonders fruchtbar für das Verständnis der Dynamiken in den unterschiedlichen Gender-Dyaden erweist sich das interaktionstheoretische Konzept von „Doing Gender“. Es besagt, dass wir unsere Geschlechtlichkeit in Interaktionen mit anderen andauernd herstellen, indem wir uns entlang unserer (jeweils spezifischen) Sozialisation als „weiblich“, „männlich“ oder auch „queer“ verhalten.

Weitere Diversity Aspekte beeinflussen unser Doing Gender: Je nach Alter, sozialer Herkunft, ethnisch-kultureller Zugehörigkeit etc. ist geschlechtliche Identität subtil oder deutlich anders, und enthält mehr oder minder stark polarisierende bzw. rigide Geschlechterbilder.

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„Intersektionalität“ bedeutet im Zusammenhang mit Gender kombinierte (kumulierte) Diskriminierungen und Beeinträchtigungen, wie Armut und Prekariat, aber auch körperliche Behinderungen und besondere Bedürfnisse.

Die Perspektive von Doing Gender ist aus zwei Gründen nützlich für die Psychotherapie. Zum einen macht sie Handlungsoptionen frei: Wenn unser Verhalten Geschlechtlichkeit in all ihren Varianten produziert, dann liegt es an uns, diese unterschiedlichen Verhaltensweisen zu reflektieren, anzupassen, neue Perspektiven auszuloten.

Im Konzept von Doing Gender ist auch ein zweiter wichtiger Aspekt enthalten: Gender entsteht in Interaktion. D. h. es reicht nicht, wenn wir (objektivierend) unsere Patient_innen als geschlechtliche Wesen mit bestimmten Verhaltensoptionen analysieren; wir sind ebenso Teil der Interaktionen und wie jemand als Therapeut_in in Beziehung zu eine_r bestimmten Patient_in tritt, ist durch das eigene Gender (und andere Diversity Faktoren) ebenso bestimmt, wie durch das des Gegenübers.

Diese Prozesse kommen in jeder Psychotherapie, wie in allen anderen Interaktionen, zum Tragen. Sie können nicht verhindert - we never „can not do gender“ - aber sehr wohl immer wieder ins Bewusstsein gerufen werden. Auch dieser interaktionale Aspekt von Gender ist psychotherapie-nahe: Denn Psychotherapie wirkt durch Interaktion.

Gender-Effekte in der Therapie auf verschiedenen Ebenen

Die im Folgenden beschriebenen Phänomene entstammen den Aussagen von etwa 300 Kolleg_innen, die Fortbildungen zum Thema Gender besuchten. Es handelte sich dabei mehrheitlich um Therapeut_innen, die Therapierichtungen aller vier Cluster angehörten. Der Prozess der Datensammlung begann 2010 und wird noch immer fortgesetzt.

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Die Therapeut_innen werden gebeten, darüber nachzudenken, wie es ihnen mit weiblichen/mit männlichen Patient_innen gehe. Was für sie eine bestimmte Geschlechterkonstellation kennzeichnet, was dabei als leicht, was als schwieriger empfunden wird, ob es gehäuft um bestimmte Themen geht bzw. spezifische Reaktionen (auf beiden Seiten!!) zu bemerken sind. Diesen qualitativen Daten unterliegt somit eine differenztheoretische Perspektive, die im theoretischen Rahmen von Doing Gender gelesen wird.

Die Aussagen werden in Protokollen gesammelt und transkribiert, sodann nach den verschiedenen Gender-Konstellationen geordnet und thematisch verdichtet. Nach dem ersten Drittel der Aussagen wurden die Kategorien (s. unten) gebildet, später hinzukommende Aussagen dann in die jeweils passenden Kategorien hinzugefügt.

Prozessspezifisch:

  • Zu Beginn der Therapie
  • Dann besonders in verunsichernden Situationen

Wie wahrscheinlich jemand Psychotherapie in Anspruch nimmt, ist eine Frage von Gender: Mehr als zwei Drittel aller Patient_innen ambulanter Psychotherapie sind Frauen, nicht einmal ein Drittel Männer. In der stationären Behandlung ist das Verhältnis ausgeglichen - dies wohl deshalb, weil dort eher schwerer erkrankte Patient_innen auftauchen. Das Gros jener, die auf Empfehlung von Ärzt_innen, Beratungsstellen oder auch aus dem sozialen Umfeld die Empfehlung zur Psychotherapie erhalten, ist weiblich. Frauen entscheiden sich auch eher von sich aus, Psychotherapie oder Beratung aufzusuchen.

Wenngleich eine verbesserte Akzeptanz v. a. bei jüngeren und gebildeteren Männern verzeichnet wird, ist der Hauptteil der Männer, was Psychotherapie betrifft, noch immer ein hard to reach Bereich. Ebenso entscheidet Gender (mit) darüber, wer welche Diagnose erhält und welche Zielvorstellungen für die Therapie formuliert werden.

Aber auch auf Anbieter_innenseite besteht ein Ungleichgewicht. Schon fast drei Viertel aller Psychotherapeut_innen ordnen sich dem weiblichen Geschlecht zu.

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Doing Gender als Risiko im therapeutischen Prozess

Verunsichernde Situationen (für beide Seiten) im Therapieprozess befördern ebenfalls Doing Gender. Denn Genderstereotypisierungen helfen uns, uns zu orientieren und bahnen Handlungsmuster in neuen und herausfordernden Situationen. Somit liegt es nahe, dass in besonders verunsichernden Momenten diese Schablonen aktiviert werden, weil dann auf sichernde Konstrukte wie eben gendertypische Handlungsschemata zurückgegriffen wird.

Aus den Aussagen der Kolleg_innen kann interpretiert werden, dass Doing Gender in als schwierig wahrgenommenen Momenten eine besondere Rolle spielt bzw. dadurch bedingt sein kann. Dies ist etwa der Fall, wenn die therapeutische Beziehung oder das Setting (kontrovers) zur Debatte stehen oder Patient_innen (bzw. Therapeut_innen) starke Gefühle von Anziehung oder Ablehnung für ihr Gegenüber spüren.

In solchen Momente reagieren Patient_innen wie Therapeut_innen (auch) entlang ihrer Gender-Sozialisation mit Beschwichtigung und Begütigung, Gegenangriff, gekränkt oder geschmeichelt sein, sich verschließen, etc. So finden es den Berichten nach z. B.

Bestimmte Themen als „Hot Spots“ von Doing Gender

Bestimmte Themen können als „Hot Spots“ von Doing Gender betrachtet werden: Überall dort, wo sich gesellschaftliche Bruchlinien entlang von Gender zeigen, kann das Besprechen und Arbeiten mit diesen Themen zu „gender-troubles“ führen.

  • Sexualität und Begehren mit ihren damit verbundenen Emotionen: erotische Anziehung bzw. Abweisung, (un)erfüllte Sehnsüchte ebenso wie die Abwesenheit sexueller Wünsche als Problem, Normvorstellungen über Sexualität und (gelebte, phantasierte) Abweichungen davon.
  • Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung: V. a.
  • Fruchtbarkeit und Reproduktion: Unerfüllter Kinderwunsch, Zeugen und Gebären, Inanspruchnahme von Reproduktionsmedizin bei Patient_in oder Partner_in, Themen der sexuellen Gesundheit, Verhütung, ungewollte Schwangerschaft/Vaterschaft; Schwangerschaftsunterbrechung, Wochenbett und Stillen.
  • Leiblichkeit und eigener Körper: v. a. dessen Bewertung; empfundene Attraktivität bzw. Erkrankungen der Geschlechtsorgane sowie die psychische Belastungen auch infolge der medizinischen Behandlungen dieser Erkrankungen z. B.
  • Familiäre und partnerschaftliche Arbeitsteilung bei Kindererziehung, Pflege, Hausarbeit und Erwerbsarbeit.
  • Berufliche Karriere und deren Anforderungen bzw.

All diese Themen können in Therapeut_innen Gefühle von Vertrautheit und Gleichheit („Da kenne ich mich aus, das habe ich auch schon erlebt“) oder das Gefühl einer Andersartigkeit hervorrufen - deshalb wohl auch die leichtere Bearbeitbarkeit in der same-gender-Kombination.

Die Bedeutungsgebung und die damit konnotierten Emotionen sowie Erfahrungen vieler Frauen und Männer unterscheiden sich in den oben genannten Themenbereichen offenbar noch immer deutlich voneinander.

Es gibt, v. a. bei Themen, die zutiefst mit Leiblichkeit zu tun haben, jeweils andere subtile (leibliche) Anmutungen und Resonanzen je nachdem, ob sie eine Frau oder ein Mann teilt: Gedanken und v. a. Emotionen einer bulimischen Patientin bezüglich des Umfangs ihrer Oberarme und Schenkel eigenleiblich nachzuvollziehen, wird weiblichen Therapeutinnen in der Regel leichter fallen als männlichen Kollegen.

Umgekehrt wird es für männliche Kollegen leichter sein, bei unterschiedlichen emotionalen Dimensionen einer Hänselung wegen Feigheit und mangelnder Coolheit mitzuschwingen, die ein schüchterner Bursche von seinen Peers einstecken muss.

Die Äußerung aggressiver oder empathischer Gefühle, körperliche Berührungen, Dynamiken von Konkurrenz und Macht oder erotischer Anziehung verteilen sich ungleich je nach Gender-Konstellation in der therapeutische Dyade oder Gruppe.

Die therapeutischen Dyaden

Es lassen sich (ohne Trans- und Inter-Genderidentitäten zu berücksichtigen) vier mögliche Kombinationen in den therapeutischen Dyaden beschreiben:

  • Weibliche Therapeutin - Weibliche Patientin
  • Weibliche Therapeutin - Männlicher Patient
  • Männlicher Therapeut - Männlicher Patient
  • Männlicher Therapeut - Weibliche Patientin

Diese Kombinationen beinhalten Patient_innen wie Therapeut_innen jeglicher sexueller Orientierung. Dazu ließen sich aus den qualitativen Daten folgende Phänomene extrahieren.

Weibliche Dyaden (Therapeutin und Patientin)

Weibliche Dyaden scheinen einen Vertrautheits-Anfangsbonus zu haben; die Therapeutinnen berichten, dass es ihnen leicht fällt, Kontakt herzustellen und recht schnell eine gute Beziehung zur Patientin aufbauen. Man schätzt sich gegenseitig und die gemeinsame Arbeit am Problem. Nähe und Verbundenheitsgefühle entstehen leicht (auf beiden Seiten), geteilte Erfahrungshintergründe können Solidarität und Parteilichkeit bahnen. Diese Vorteile sind nicht ohne Schattenseiten: eine Idealisierung der Therapeutin als beste Mutter/Schwester oder intime Freundin verdeckt Konkurrenz und Machtdynamiken. Konfrontation oder Aggression und Reaktanz können in homogen weiblichen Dyaden schwerer, oft erst spät im Prozess thematisiert werden. Homoerotische Atmosphären werden von (heterosexuell orientierten) Kolleginnen oft gänzlich ausgeblendet - Daten über sexuelle Übergriffe in der weiblichen Dyade sind bis auf einzelne Fallberichte nicht vorhanden. Leicht ist es, hier Role Model zu sein - intime Themen (vgl.

Weibliche Therapeutin - Männlicher Patient

Diese Dyade kontrastiert patriarchale Gender-Stereotypen. Darin liegt wahrscheinlich die Ursache, warum viele v. a. junge Kolleginnen, diese Konstellation mit v. a. älterem Patienten als herausfordernd erleben. Sie berichten dabei über (Anfangs)Schwierigkeiten in ihrer Therapeutinnenrolle anerkannt zu werden und geben Beispiele von „Austesten“ und Verhandeln darüber. Am schwierigsten empfinden sie die Versuche von Patienten, mit ihnen zu flirten, Komplimente zu machen oder anzüglich zu werden (Doing Gender in schwierigen Situationen? Herstellen der gewohnten patriarchalen Dynamiken?). Sie versuchen sich zu „neutralisieren“ und reagieren mit mütterlichen Gegenübertragungsgefühlen (um sich auf sicheren Boden zu retten?).

Homogen männliche Dyade

Die homogen männliche Dyade hat v. a. zu Beginn mit Konkurrenz und schwierigem Vertrauensaufbau zu kämpfen. Viele Kollegen berichten von einer Art Ringen, wer in der Therapie „das Sagen“ hat, Konfrontation ist möglich. Wenn der Beziehungsaufbau geglückt ist (tendenziell später als mit weiblichen Patientinnen), dann kann die geteilte Gender-Erfahrung vertieftes Verständnis befördern. Männer tun sich leicht, mit Männern sexuelle Inhalte anzusprechen, schwieriger ist es bei weichen und „unmännlichen“ Gefühlen (Scham, Hilflosigkeit, Opfersein …).

Männlicher Therapeut - Weibliche Patientin

In dieser Dyade gelingt es laut Angaben der Therapeuten zumeist leicht, eine gute therapeutische Beziehung herzustellen. Patientinnen akzeptieren ihre fachliche Autorität, erzählen viel von sich und geben dem Therapeuten das Gefühl, dass er bzw. die Therapie geschätzt werden. In dieser Dyade wird am häufigsten von erotischen Atmosphären berichtet. Männliche Therapeuten berühren ihre weiblichen Patientinnen auch häufiger als weibliche Berufskolleginnen dies tun. Manche Therapeuten bemühen sich, einer in ihrer Beziehung leidenden Patientin ein anderes, besseres Männerbild präsentieren zu wollen und können so kontraproduktiven Idealisierungen Vorschub leisten. Manche gendersensible Kollegen berichten von der Schwierigkeit, v. a.

Die Aussagen der Therapeut_innen bilden Doing Gender in der Therapie gut ab, das unabhängig von den Therapieverfahren die Dynamiken der therapeutischen Beziehung einfärbt (und stellenweise sogar maßgeblich bestimmt). Wichtig ist zu betonen, dass diese Dynamiken auch ganz in den Hintergrund treten können, und sich in gut verlaufenden Prozessen bearbeiten lassen bzw.

Anschließend an diese qualitativ gewonnen Aussagen möchte ich mit gender-betreffenden Ergebnissen einer Studie der Donau Universität, die zum Thema Risiken und Nebenwirklungen von Psychotherapie durchgeführt wurde, auch eine Perspektive von Patient_innen ergänzen.

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