Psychosomatische Grundversorgung: Inhalte und Bedeutung

In unserer zunehmend komplexer werdenden Welt nehmen psychosoziale und psychosomatische Leidenszustände voraussichtlich weiter zu. Bereits jetzt beträgt der Anteil der Patienten mit psychosomatischen Störungen in einer Allgemeinpraxis bis zu 40 %. Angesichts dieser Entwicklung gewinnt die psychosomatische Grundversorgung in der Medizin zunehmend an Bedeutung.

Über die Schaffung von Positionen für das Psychosoziale und Psychosomatische Gespräch bei allen Kassen (und für Psychotherapeutische Medizin bei den kleinen Kassen) versuchen auch diese dieser gesellschaftlichen Entwicklung sowie einem modernen systemtheoretisch begründeten bio-psycho-sozialen Krankheitsverständnis zumindest in Ansätzen Rechnung zu tragen. Aber nur durch Aneignung einer ausreichenden fachlichen, kommunikativen und menschlichen Kompetenz auf diesem Gebiet werden wir als Ärzte den alten und neuen Herausforderungen unserer Rolle und unserer gesellschaftlichen Position/Funktion gewachsen sein, wird im Sinne M. Balints die Arzt-Patienten-Beziehung für den Patienten zu einer heilsamen Begegnung werden können.

Die Weiterbildung in Psychosozialer und Psychosomatischer Medizin, die mit der Verleihung des entsprechenden PSY-Diploms der ÖÄK dokumentiert wird, soll den Arzt zur umfassenden und eigenverantwortlichen bio-psycho-sozialen Diagnose und zu einem Therapieansatz im Sinne einer ganzheitlichen integrierten Psychosomatik befähigen. Der Arzt soll in die Lage versetzt werden, relevante pathogene und salutogene Faktoren aufzuspüren, zu benennen und zu gewichten, indem er sie in ihrer Vernetztheit auf dem Hintergrund moderner theoretischer Konzepte reflektieren lernt.

Die Bedeutung der Arzt-Patienten-Beziehung

„Der kranke Mensch braucht zu allen Zeiten einen Experten, der ihm behilflich ist, seine Beschwerden und seine eingeschränkte Leistungsfähigkeit zu überwinden, sowie einen Partner, der ihm hilft, aus der sozialen Isolierung heraus zu gelangen und seine existentiellen Ängste zu ertragen. Diese zwei Forderungen werden seit jeher an die Heiler und Helfer gestellt - ob es sich um Medizinmänner, Schamanen, Ärzte, Schwestern, Pfleger oder andere Angehörige der Heilberufe handelt“ (v. Uexküll).

Anhand von eigenen Beispielen der Teilnehmer/-innen über mehr oder weniger geglückte Arzt-Patient-Begegnungen geht es zunächst darum, über die Ebene objektiver Informationen und den daraus abgeleiteten schulmedizinischen, vorwiegend positivistisch naturwissenschaftlich orientierten Krankheitsmodellen hinauszugehen und als Arzt, als Ärztin zu lernen, über einfühlendes Verständnis und eine dieses vermittelnde Gesprächsführung in die Lebens- und Erlebenswelt der Patienten einzutreten.

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Es gilt auf dieser Ebene nicht nur als Experte mit Sachkompetenz zu diagnostizieren und zu verordnen, sondern auch als Partner mit Beziehungsgestaltungskompetenz gemeinsame konstruktive Interpretationsmodelle von Situation, Krankheit, Ressourcen und entsprechende Behandlungs- und Veränderungsstrategien zu entwickeln. Darüber hinaus bieten die Balintgruppentreffen die Möglichkeit, emotionale Belastungen, die mit der Arzt/Ärztinnen-Rolle unvermeidbar immer wieder verbunden sind (Stichwort Empathie-Stress oder. der „schwierige“ Patient), gemeinsam zu reflektieren und so die notwendige professionelle Distanz wieder zu finden. Dies dient auch der eigenen Psychohygiene und ist als wichtige Burnoutprophylaxe für Ärzte/Ärztinnen eigentlich unverzichtbar.

Inhalte der Psychosomatischen Grundversorgung

Das PSY 2 bietet Inhalte, um das Verständnis des bio-psycho-sozialen Modells zu erweitern. Ziel ist es, dass die unterschiedlichen Dimensionen in diagnostischer und therapeutischer Hinsicht parallel erfasst werden und in die eigene ärztliche Tätigkeit einfließen können. Damit wird eine psychosomatische Grundversorgung umgesetzt.

PSY 1 und PSY 2 bieten gemeinsam:

  • ein kognitives Lernziel über die Vermittlung theoretischer Grundlagen
  • ein pragmatisches Lernziel, durch praktische Erfahrung der ärztlichen Gesprächstechnik und der Erstellung einer ganzheitlichen Diagnose samt entsprechendem multimodalen Therapieplan.

Themen des PSY2-Curriculums

  1. 1. Semester
    • Grundlagen der Psychosomatischen Medizin
    • biopsychosoziale Gesamtdiagnose
    • Einführung in die psychologischen Entspannungstherapien (psychovegetative Regulationsverfahren) mit Erlernen einer Entspannungsmethode (Autogenes Training, Progressive Muskelentspannung)
    • Lebensspannenentwicklung und Krisen
    • Grundlagen der interdisziplinären (biopsychosozial orientierten) Kooperation
    • Ärztliche Ethik & Philosophie
    • Evaluation und Abschluss der Kleingruppen-Fallarbeit
    • Balintgruppe
  2. 2. Semester
    • Weiterführende Grundlagen Psychosomatischer Medizin
    • Krankheitsverhalten und Krankheitsbewältigung
    • somatoforme Störungen
    • Grundlagen der Psychopharmakotherapie; Krisenintervention und Krisenbetreuung
    • Grundlagen der ärztlichen psychotherapeutischen Methoden (iVT)
    • Gruppenselbsterfahrung (eine Woche davon im Herbst in Bad Gleichenberg)
    • Balintgruppe
  3. 3. Semester
    • Diagnose & Therapie psychosomatischer Störungen im Erwachsenenalter,
    • Simultandiagnostik und Simultantherapie
    • Supervision der psychosomatischen Arbeit
    • Grundlagen der ärztlichen psychotherapeutischen Methoden (Psychodynamische Therapie)
    • Grundlagen d. Sexualmedizin und geschlechtsspezifische Aspekte in der Psychosomatischen Medizin
    • Evaluation und Abschluss der schriftlichen Fallarbeit
    • Gruppenselbsterfahrung
    • Balintgruppe
  4. 4. Semester
    • Gruppen-Supervision für die eigene Praxis aus psychosomatischer Medizin
    • Grundlagen der ärztlichen psychotherapeutischen Methoden (Systemische Therapie)
    • Diagnose und Therapie psychosomatischer Störungen im Kindes- und Jugendalter
    • Umgang mit Schwerkranken
    • Besprechung der eigenen psychosomatischen Arbeit
    • Evaluation und Abschluss des formellen PSY2 - Curriculums
    • Gruppenselbsterfahrung
    • Balintgruppe (falls noch AE ausständig)

Selbsterfahrung, Balintgruppen und Entspannungsverfahren

Die Selbsterfahrung ermöglicht das Kennenlernen und Reflektieren der eigenen Person in schwierigen Situationen. Im Curriculum wird angeboten, die für das PSY 2 vorgeschriebenen Einheiten in den psychotherapeutischen Seminaren in Bad Gleichenberg und teilweise auch an Wochenenden in Graz zu absolvieren. Ein Teil dieser Selbsterfahrung muss kontinuierlich, zumindest über die Dauer von 60 AE erfolgen.

Wie im PSY 1 werden zum besseren Verständnis der Arzt-Patientenbeziehung Balintgruppen angeboten. Es besteht die Möglichkeit diese in laufenden Gruppen in Graz oder beim psychotherapeutischen Seminar „leib oder leben“ über 6 Tage in Bad Gleichenberg zu absolvieren.

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Im Curriculum enthalten ist eine theoretische Einführung in 2 Entspannungsverfahren mit der Möglichkeit zum Erlernen einer Methode (Progressive Muskelrelaxation oder Autogenes Training).

Die Rolle der psychosomatischen Grundversorgung in der Praxis

Für Allgemeinmediziner und Fachärzte ohne einen psychologischen Hintergrund ist es allgemein schwierig, psychogene oder psychogen mitverursachte Erkrankungen korrekt zu diagnostizieren. Bei der Ausbildung in der Allgemeinmedizin ist das kein Schwerpunkt. Das fehlende Verständnis für psychosomatische Erkrankungen ist hauptursächlich für eine hohe Zahl an falschen Diagnosen. Experten schätzen die Zahl der fehlerhaft diagnostizierten Patienten auf mindestens 30 Prozent.

Eine falsche Diagnose hat diverse Folgen. Die eingeschlagene Therapie baut darauf auf, bei einer falschen Diagnose ist sie inadäquat. Das verursacht immense Kosten für das deutsche Gesundheitssystem. Nicht zuletzt leidet auch das Vertrauen von Patienten in die Medizin.

Mit dem Wissen der Zusatzqualifikation können Mediziner schneller differenzialdiagnostische Maßnahmen in die Wege leiten. Die Differenzialdiagnose hat als Ziel, die alternativ als Erklärung für die Krankheitszeichen oder medizinischen Befunde vorliegenden Krankheiten auszuschließen.

Bei einem komplexen Krankheitsbild wird die Erkrankung in ihre somatischen, psychischen und psychosozialen Auswirkungen unterteilt und untersucht. In der Vergangenheit wurde der Fokus bei der Diagnostik und Therapie zu einseitig auf die Biologie ausgerichtet. Der Einfluss der Psyche auf den Körper wurde zu wenig hinterfragt.

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Zusatzqualifikation und Abrechnung

Das Curriculum der Zusatzqualifikation „Psychosomatischen Grundversorgung“ ist für bestimmte medizinische Berufsgruppen vorgeschrieben. Die Fort- und Weiterbildung ist für Allgemeinmediziner ebenso obligatorisch wie für Ärzte, die im Bereich der Frauenheilkunde und Geburtshilfe tätig sind. Die Ärztekammern in Deutschland können darüber hinaus weitere Fachbereiche zu dieser Zusatzqualifikation verpflichten.

Bestimmte Leistungen können Ärzte nur bei Nachweis der Zusatzqualifikation abrechnen. Bei der Akupunktur und der Schmerztherapie berechtigt ein erfolgreich absolvierter Kurs in „Psychosomatischer Grundversorgung“ zur Abrechnung mit den gesetzlichen und privaten Krankenkassen. Gleiches gilt für die Zulassung zur In-vitro-Fertisation.

Die Fort- und Weiterbildung ist eine sinnvoll investierte Zeit. Die investierten Kosten amortisieren sich bei Abrechnung zusätzlicher Behandlungsfelder. Darüber hinaus sind entsprechend geschulte Mediziner in der Lage, ihre Patienten fundierter zu diagnostizieren. Die erlernten Behandlungsmöglichkeiten in dem Kurs sind vielseitig in den Alltag einzusetzen. Besonders hervorzuheben ist die Behandlung bei akuten seelischen und psychischen Krisen und chronischen Krankheiten.

Wichtigste Voraussetzung für teilnehmende Mediziner ist die Anerkennung der Zusatzqualifikation durch die Ärztekammern. Das ist bei einem Kurs der Fall, der sich dem Curriculum für psychosomatische Grundversorgung der Ärztekammer orientiert. Das garantiert die Freigabe zur Abrechnung zusätzlicher Ziffern. Die Zusatzqualifikation wird in einem meist einwöchigen Kurs erworben. Dazu kommen Mediziner verschiedener Fachbereiche zusammen. Der Kurs dient neben dem Vermitteln von Wissen auch dem Austausch untereinander. Stattfinden können die Angebote in unterschiedlichen Städten in Deutschland sowie im Ausland.

Verbal Intervention und Gruppenbehandlungen

Bei der verbalen Intervention wird versucht, dem Patienten durch eine systematische Gesprächsführung mehr Einsicht in die eigene Krankheit zu vermitteln. Die komplexen psychosomatischen Zusammenhänge, die für die akute oder chronische Erkrankung verantwortlich sind, werden zum Ziel der Krankheitsbewältigung thematisiert. Die Gesprächsführung findet in Einzelgesprächen statt.

In Gruppenbehandlungen erfolgt die suggestive Intervention. Mögliche Maßnahmen sind die Jacobsonsche Relaxationstherapie oder das Autogene Training. Unter Umständen und mit Einwilligung des Betroffenen ist die Hypnose in Einzelbehandlung möglich.

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