Toxische Beziehungen sind Beziehungen, in denen nach allgemeiner klinischer Erfahrung regelmäßig zumindest ein Partner eine Persönlichkeitsstörung aufweist.
Zu den für toxische Beziehungen besonders relevanten Persönlichkeitsstörungen gehören insbesondere die folgenden Persönlichkeitsstörungen (welche weitgehend den Cluster B Persönlichkeitsstörungen nach DSM-V):
- Narzisstische Persönlichkeitsstörung: Prävalenz von 6% in der Allgemeinbevölkerung
- Histrionische Persönlichkeitsstörung: Prävalenz von 2% in der Allgemeinbevölkerung
- Borderline Persönlichkeitsstörung: Prävalenz von 5% in der Allgemeinbevölkerung
- Antisoziale Persönlichkeitsstörung: Prävalenz von 4 % in der Allgemeinbevölkerung
- Psychopathie: Prävalenz von 1% in der Allgemeinbevölkerung
Gesunde Beziehungen sind vereinfacht gesagt wechselseitige (reziproke) Energieaustauschsysteme, in denen jeder Partner zumindest mittel- und langfristig so viel vom anderen Partner zurückbekommt wie er in die Beziehung („emotional“ bzw. durch verschiedene Handlungen) eingezahlt hat.
Toxische Beziehungen hingegen sind Beziehungen in denen sich immer der Partner mit Persönlichkeitsstörung mittel- und langfristig durch manipulative (=verdeckte) Strategien „mehr herausnimmt“, als er in die Beziehung „eingezahlt hat“.
Dies löst beim gesunden Partner mit der Zeit massive aber (aufgrund des verdeckt-manipulativen Strategieeinsatzes) nur schwer zuordenbare Störgefühle aus.
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Im Zeitverlauf begünstigt das immer stärker werdende Ungleichgewicht zwischen den Partnern (bzw. der immer stärker werdende „psychische Energieverlust“ beim gesunden Partner) das Auftreten psychischer Erkrankungen (z.B. Depressionen, Angststörungen, akute Belastungsreaktionen, „Burn-Out“ Symptome) beim vormals gesunden Partner.
Da der persönlichkeitsgestörte Partner aufgrund seines regelmäßig vorhandenen Empathie-Defizits und seiner eigenen Psychopathologie, den anderen Partner oft nicht freigibt, ihn stattdessen z.B. als narzisstisches Energiereservoir („narcissistic supply“) weiter „gebraucht“, verstärkt sich der krankheitswertige Prozess für den vormals gesunden Partner zyklisch im Zeitverlauf.
Merkmale toxischer Beziehungen
Weitere Merkmale toxischer Beziehungen:
- Doppelmoralistische Standards: „Tu was ich sage, aber nicht was ich tue“.
- Die toxische Person (=TP) benutzt Sprache als Mittel „des psychischen Missbrauchs“.
In Dialogen, welche der Aufarbeitung von Schwierigkeiten in der Beziehung dienen sollten, kommt es somit niemals zu einer tatsächlichen Klärung von Problemen, stattdessen drehen sich die Positionen im Laufe des Gesprächs immer wieder bis zur Erschöpfung des gesunden Partners um (oft kommt es rasch zu einer völligen Verkehrung der Problemverhältnisse).
- „Ghosting“ und „Benching“: TP verschwindet z.B.
- „Soziale Isolation“: Die TP ist bestrebt den Partner im Zeitverlauf zu isolieren und alle Helfersysteme auszuschalten (arbeitet gezielt gegen gewisse Freunde oder Familienmitglieder).
Unabhängig davon, ob die TP (=toxische Person) in der Beziehung ihre manipulativen Strategien bewusst oder unbewusst einsetzt, so ist das Ergebnis leider aus der klinischen Erfahrung heraus dennoch oft das Gleiche: es kommt zum Entstehen von psychischen Erkrankungen beim vormals noch gesunden Partner und zum Eintritt einer Form der Co-Abhängigkeit (=Unfähigkeit sich aus der toxischen Beziehungsstruktur noch lösen zu können).
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Toxische Beziehungsstrukturen und die damit einhergehenden sehr komplexen zwischenmenschlichen Interaktionsspiele sind ohne Kenntnis der dahinterliegenden psychologischen Ursachen und Motivsysteme, welche die Personen mit Persönlichkeitsstörung leiten (also quasi „von innen“ aus dem toxischen System selbst heraus) regelmäßig nur schwer zu durchschauen und nur selten gelingt die Loslösung aus dem System heraus ohne externe Unterstützung.
Warten Sie deshalb nicht zu lange, um sich Hilfe zu suchen.
Narzisstische Persönlichkeitsstörung
Die narzisstische Persönlichkeitsstörung (NPS) zeichnet sich durch einen Mangel an Empathie, Überschätzung der eigenen Fähigkeiten und gesteigertes Verlangen nach Anerkennung aus.
Typisch ist, dass die betroffenen Personen übermäßig stark damit beschäftigt sind, anderen zu imponieren und um Bewunderung für sich zu werben, aber selbst nur wenig zwischenmenschliches Einfühlungsvermögen besitzen und nur wenig emotionale Wärme an andere Menschen zurückgeben.
Narzisstische Persönlichkeiten weisen deutliche Probleme bei der Anpassung an ihre Lebensumstände und an ihr Lebensumfeld und in der autonomen Regulierung des Selbstwertgefühls auf.
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Solche Anpassungsschwierigkeiten können sich in vielfältiger Weise äußern und in verschiedenen Erscheinungsformen der NPS auftreten.
Der übermäßige Geltungsdrang kann entweder selbstsicher in Szene gesetzt oder schüchtern verborgen werden.
Dementsprechend können Betroffene arrogant auftreten oder sich bescheiden geben.
Pathologischer Narzissmus kann sich sowohl durch Prahlen und Hochstapelei äußern wie auch durch unersättliche Ansprüche und Erwartungen.
Menschen mit einer NPS neigen dazu, Personen in ihrem unmittelbaren Umfeld emotional zu missbrauchen (besonders Sexualpartner und Kinder), um dadurch den eigenen Selbstwert (ihr Ego) auf Kosten anderer zu erhöhen.
Andere Formen der narzisstischen Persönlichkeitsstörung sind durch ein instabiles, rasch wechselndes Selbstwertgefühl gekennzeichnet, das im Extrem zwischen Grandiosität und schamvoller Zerknirschung pendeln kann.
Vorkommen kann auch eine im Inneren chronisch schwelende Wut, die schon bei geringem Anlass explodieren kann (vor allem bei Kritik oder subjektiv empfundener Kränkung).
Klassifikation
Im Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation (der ICD-10) wird die narzisstische Persönlichkeitsstörung nur in einer Restkategorie aufgeführt (F60.8. Sonstige spezifische Persönlichkeitsstörungen).
Im DSM-5 der American Psychiatric Association ist sie dagegen als selbständiges Störungsbild enthalten und gehört dort zum Cluster B, der die launisch, dramatisch, emotionalen Persönlichkeitsstörungen umfasst.
In jedem Fall muss sie von normalem Narzissmus als tatsächlicher oder zugeschriebener Charaktereigenschaft abgegrenzt werden.
Normaler vs. pathologischer Narzissmus
Zu den ersten Autoren, die explizit zwischen einem normalen und einem pathologischen Narzissmus unterschieden, zählt im frühen 20. Jahrhundert der Psychoanalytiker Isidor Sadger.
Dass Narzissmus zur ganz normalen menschlichen Entwicklung gehört, wurde wenig später von Otto Rank herausgearbeitet.
Sigmund Freud räumte 1914 zwar ein, dass Narzissmus auf eine Pathologie hinweisen könne, konzipierte ihn wie Rank aber eher als einen Prozess der normalen Entwicklung denn als ein Krankheitsbild.
Sein Schüler Karl Abraham dagegen sah beim Narzissmus eine Pathologie, sobald Neid ins Spiel komme, als durchaus gegeben an.
In Großbritannien hatte der Psychoanalytiker Ernest Jones bereits 1913 von einem Gottkomplex geschrieben, einer Pathologie, die sich durch Abgehobenheit, Selbstbewunderung, Exhibitionismus und Omnipotenz- und Allwissenheitsfantasien auszeichne.
Wie vor ihm bereits Otto Rank, nahm auch Jones an, dass dieses Verhalten als Versuch eines sich bedroht fühlenden Individuums zu erklären sei, sich selbst zu schützen.
Noch weiter ging später Annie Reich, die Narzissmus für eine pathologische Form der Regulierung des Selbstwertgefühls hielt, bei der Selbstüberhöhung und Aggression benutzt werden, um das Konzept zu schützen, das man sich vom Selbst gemacht hat.
Narzisstischer Charakter
Das Konzept einer narzisstischen Persönlichkeit bzw. eines narzisstischen Charakters hat 1925 erstmals der Psychoanalytiker Robert Waelder beschrieben.
Freud folgte ihm 1931 und beschrieb nun ebenfalls einen narzisstischen Charaktertypus mit einem dynamischen Zusammenhang zwischen Narzissmus und Aggressivität in Reaktion auf Kritik, Kränkung oder fehlende Beachtung.
Wilhelm Reich nahm diese Anregung auf und beschrieb 1933 seinerseits einen phallisch-narzisstischen Charakter, den er vor allem bei Männern und mit einer ganzen Bandbreite von Auffälligkeiten beobachtet hatte; eingehend stellte er darüber hinaus die von Freud nur allgemein erwähnte Dynamik von Narzissmus und Aggressivität dar.
Karen Horney unterschied 1939 drei Subtypen von narzisstischen Charakteren (aggressiv-expansiv, perfektionistisch, arrogant-rachsüchtig) und nahm eine genaue Unterscheidung zwischen gesundem Selbstbewusstsein und pathologischem Narzissmus vor, wobei Narzissten sich insbesondere da selbst lieben, bewundern und wertschätzen, wo gar nichts liebenswert sei.
Anders als Freud hielt Horney Narzissten für unfähig zur Liebe, einschließlich der Liebe zum tatsächlichen Selbst; konsequenter als Freud ging sie davon aus, dass die narzisstische Grandiosität eher auf Defensive als auf authentischer Selbstliebe basiere.
Donald Winnicott folgte ihr 1965 und charakterisierte Narzissten als Personen, die sich schützend mit einem grandiosen falschen Selbst identifizieren.
Als Ursache für diese Reaktion hatte Annie Reich bereits 1960 die Unfähigkeit des Narzissten bestimmt, sein Selbstwertgefühl autonom zu regulieren, und zwar aufgrund wiederholter traumatischer Erfahrungen, die in ihm ein hartnäckiges Grundgefühl von Schwäche und Machtlosigkeit erzeugt habe.
Reichs Beitrag zum narzisstischen Charakter ist auch darum wichtig, weil sie als erste die ständigen Schwankungen beschrieben hat, denen das narzisstische Selbstbewusstsein unterworfen ist; Narzissten können Ambivalenz, Mittelmäßigkeit und Misserfolg schwer aushalten und sehen sich darum entweder als perfekt oder als komplett gescheitert an.
Psychische Störung
Der erste Autor, der im Narzissmus nicht nur ein Persönlichkeitsmerkmal, sondern explizit eine psychische Störung und damit eine Krankheit sah, war der von Freud beeinflusste US-amerikanische Psychiater John C. Nemiah.
In seinen Foundations of Psychopathology (1961) sprach er von einer narzisstischen Charakterstörung.
Erich Fromm schlug 1964 das Konzept eines bösartigen Narzissmus (engl. malignant narcissism) vor, dessen Symptombild narzisstische, antisoziale und sadistische Züge vereinigt; die zeitgenössische Psychiatrie hat vielfach darauf Bezug genommen, in der Diagnostik hat sich dieses Konzept jedoch nicht durchgesetzt.
Nemiahs Anregung einer narzisstischen Charakterstörung folgte der in Wien gebürtige amerikanische Psychoanalytiker Otto F. Kernberg, der 1967 den Begriff der narzisstischen Persönlichkeitsstruktur vorschlug und in verschiedenen Publikationen eine umfassende Beschreibung der Symptome lieferte.
Der ebenfalls aus Wien stammende amerikanische Psychoanalytiker Heinz Kohut führte 1968 schließlich den Begriff der narzisstischen Persönlichkeitsstörung ein, der auch diesem Artikel zugrunde liegt.
Kernberg verstand den pathologischen Narzissmus als die Folge einer Erziehung durch empathielose, emotional eigennützige Eltern, die dem Kind mit Ablehnung und Kälte begegnen und ihm ihre Aufmerksamkeit nur dann schenken, wenn dies ihren eigenen Bedürfnissen entspricht.
Kompensatorisch entwickelt das Kind ein grandioses Selbstkonzept.
Dieses dient ihm als der Rückzugsort, an dem es die Bewunderung, die ihm von den Eltern nicht geschenkt wird, wenigstens in seiner Phantasie imaginieren kann.
Daneben bleibt jedoch das negative Selbstbild bestehen, das das abgelehnte Kind von sich selbst hat; dieses wird abgespalten und hinterlässt einerseits ein Gefühl von Scham und Leere, andererseits einen unstillbaren Hunger nach Bewunderung und Aufregung.
Im Unterschied zu Kernberg begriff Kohut die narzisstische Persönlichkeitsstörung als eine fehlgeschlagene Wendung innerhalb einer normalen Entwicklung.
Während der Narzissmus im Normalfall eine Art Motor dafür ist, über die frühkindliche Identifikation mit den idealisierten Eltern einen realistischen Ehrgeiz auf der Basis realistischer Zielsetzungen entstehen zu lassen, bleibt dieser Prozess im pathologischen Fall unvollendet, da hier das Kind die ablehnenden Eltern nicht ausreichend idealisiert und infolgedessen bestimmte Fähigkeiten der Selbstregulierung nicht erlangt; stattdessen bleibt es darauf angewiesen, für die alltägliche Aufrechterhaltung seines Selbstbewusstseins andere Personen in Dienst zu nehmen, die ihm ergeben sind und empathische Aufmerksamkeit entgegenbringen.
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