Borderline-Persönlichkeitsstörung bis zum Tod: Eine Tragödie und ihre Lehren

Hinweis: Dieser Artikel thematisiert Suizid und psychische Erkrankungen. Bitte lesen Sie ihn mit Bedacht und suchen Sie sich bei Bedarf Unterstützung.

„Als Gott die Englein zählte und sah, dass eines fehlte, da sah er dich und wählte“ steht auf der Parte; im Hintergrund ein strahlendes Mädchen mit verschränkten Beinen im Schneidersitz und gemusterter Sport-Kleidung. Lea H. ist 17 Jahre alt, als sie Suizid begeht. Am frühen Morgen des 26. Oktober 2020 steht sie auf einem Zwischendach des Wiener AKH und nimmt sich das Leben.

Der Fall Lea H.: Eine Chronik der Hilflosigkeit

Hätte ihr früher Tod verhindert werden können? Leas Krankengeschichte liest sich wie ein Lauf durch Psychiatrien, Spitäler und Wohngemeinschaften. Lea musste von einer Stelle zur nächsten. Über Jahre fand das Mädchen keinen Platz, der ihr helfen konnte. Doch beginnen wir von vorn.

Lea war ein Kind wie viele, nur ihre Intelligenz und Liebesbedürftigkeit waren außergewöhnlich. Im Alter von fünf Jahren wurde ihre Mutter schwer krank. „Vielleicht war das mit ein Grund für ihren späteren Krankheitsverlauf“, sagt Thomas H. Leas Vater sitzt in einem Wiener Kaffeehaus. Er spricht leise. Sein Blick schweift in die Ferne. „Lea sprach schon in ihrer frühen Kindheit davon, sich das Leben zu nehmen”, sagt H. Er wirkt gefasst. Doch es fällt ihm schwer, über seine Tochter zu reden. Er tut es trotzdem. Ihr Tod soll nicht sinnlos gewesen sein. Ihre Geschichte soll etwas bewirken. Denn für H. ist klar: Das träge System trägt eine Mitverantwortung am Tod seiner Tochter.

Die Odyssee durch Institutionen

Als Lea zehn Jahre alt war, ließen sich die Eltern scheiden. Der Kontakt von Lea zu ihrem Vater riss ab, zu zerrüttet war das Verhältnis zwischen Vater und Mutter. Nur vereinzelt kam es zu Kontakten. Nach einem gemeinsamen Wochenende mit dem Vater wollte Lea in die Hinterbrühl gebracht werden, sagt der Vater. Es gehe ihr schlecht.

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In Hinterbrühl in Niederösterreich ist ein sozialpädagogisches Betreuungszentrum. Die Eltern helfen ihrer Tochter, dort einen stationären Platz zu bekommen. Die Mediziner:innen in Hinterbrühl erkennen schnell - Lea ist suizidgefährdet. Es ist die erste Station in einer langen Kette von Institutionen, die Lea helfen sollen. „Dorthin habe ich sie gebracht und aufgrund dessen hat sich dann das Jugendamt eingeschaltet.” Das Jugendamt übernahm die Obsorge seiner Tochter. „Das Schlimme war, dass wir die Erziehung komplett an das Jugendamt abgeben mussten“, sagt H. Leas Suizidgedanken wurden heftiger.

Sie kommt in ein Krisenzentrum der Stadt. „Dort ging es ihr wirklich besser.“ Doch konnte sie nicht bleiben. Der Aufenthalt in diesen Zentren ist nur vorübergehend, bis ein anderer Platz für die Kinder und Jugendlichen gefunden wird. Lea musste in eine WG der MA 11 (Kinder- und Jugendhilfe), verwaltet von Sozialpädagog:innen.

Ein Teufelskreis aus Diagnosen und Therapieabbrüchen

Lea wurde in Folge in verschiedenen WGs untergebracht und in akuten psychischen Krisen immer in unterschiedliche Wiener Spitäler gebracht - entweder in die Klink Hietzing/Rosenhügel oder ins AKH. Und der Wohnort von Lea wechselte in dieser Zeit oft. Sie wurde oftmals verlegt. „Und dann ging alles von vorn los: die Gespräche, die Ursachenforschung, neue Medikamente. Immer andere Ärzte - das war gar nicht gut.“ Sie war zwei Tage im Spital und wurde dann wieder in die WG entlassen. Viel zu kurz, meint der Vater. Aber die Plätze in stationären psychiatrischen Einrichtungen für Kinder und Jugendliche sind rar.

Wie sich Lea dabei fühlte? „Sie bekam starke Medikamente, sodass ich denke, dass sie alles wie benommen wahrnahm.“ Damit Lea immer ins AKH gebracht werden konnte, wo sie sich am besten betreut fühlte, so erzählt H., wendete er in Abstimmung mit dem Jugendamt und der WG-Leitung einen Trick an: „Ich meldete Lea bei meinen Eltern an. Sie war manchmal dort, manchmal in der WG. Sie hatte nichts Fixes.“ Rechtens war das nicht. Er schüttelt den Kopf, als könne er es selbst nicht glauben.

Lea wurde in sozialpädagogischen Einrichtungen betreut. Ein sozialtherapeutischer Platz mit einer intensiveren Betreuung wurde aufgrund ihrer Suizidgefahr angestrebt. Auf diesen wartete sie rund zwei Jahre. Weshalb dauerte das so lang? Das weiß der Vater nicht.

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„Ich kenne den Fall“, sagt Ewald Lochner, kaufmännischer Leiter der Psychosozialen Dienste in Wien (PSD) und Koordinator für Psychiatrie, Sucht- und Drogenfragen der Stadt Wien, auf Anfrage der WZ. Auch die Pressestelle des Gesundheitsstadtrats Peter Hacker verwies als Antwort zu einer Stellungnahme in dieser Causa auf Lochner. „Der Vater hat sich auch an mich gewandt, mit dem Ersuchen um Hilfe. Die haben wir ihm auch gegeben, indem wir ,the best place‘ gesucht haben, wo man andocken könnte. Wir haben versucht, weiterzuvermitteln und sie einer Behandlung zuzuführen“, erinnert sich Lochner.

Die Diagnose: Borderline-Persönlichkeitsstörung

Lea litt auch an Drogen- und Alkoholsucht aufgrund des ständigen Wechsels des Betreuungsplatzes und der Beeinflussung der dadurch erlebten Kontakte, ist der Vater überzeugt. Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) lautete die Diagnose. „Das Mädchen hatte eine erhebliche BPS entwickelt, die mit Sicherheit in dem Alter und dieser Ausprägung schwer zu behandeln ist“, sagt Lochner.

Typisch für BPS sind Impulsivität, instabile zwischenmenschliche Beziehungen, rasche Stimmungswechsel mit Wutausbrüchen und ein schwankendes Selbstbild bei einer instabilen und häufig veränderten Selbstwahrnehmung. Das führte dazu, dass Gemütszustände binnen Sekunden wechselten. Das Mädchen geriet in Rage. Lea war dann nicht mehr zu halten, schlug um sich. Immer wieder mussten die Betreuer:innen in den WGs Polizei und Rettung rufen. „Die Patientin hat sich selbst verletzt“, sagt Lochner.

„Es gab unterschiedliche Andockstellen in der Psychiatrie, weil es gerade bei einer Borderline-Störung vorkommt, dass die Betroffenen sehr schnell die Behandlungssettings wechseln, weil sie unzufrieden sind.“ Das sei Teil des Krankheitsbilds.

Ein Wettlauf gegen die Zeit

Verschlimmerte sich Leas Zustand, weil es nicht schnell genug einen Platz in einer sozialtherapeutischen WG gab? Vielleicht - vielleicht auch nicht. H. kann und will die Frage nicht beantworten. Sie hätte jedenfalls eine bessere Chance gehabt, glaubt er.

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„Es hat zig Versuche gegeben, das Mädchen doch dauerhaft stationär unterzubringen, doch sie war leider nicht sehr behandlungskooperativ. Das gehört zu dieser Störung dazu“, sagt der PSD-Leiter Lochner. H. erkannte die Tragweite der Erkrankung erst viel später: „Eine der schwersten Borderliner:innen“, soll der behandelnde Psychiater gesagt haben. Eine Erklärung für die Hinterbliebenen? Wohl kaum.

Im August 2020 war es endlich so weit: Über Beziehungen intervenierte H. schließlich erfolgreich. Lea bekam den für sie so wichtigen Platz. Zu spät? Ja, sagt der Vater. Warum es so lang gedauert hat? Zu wenig Personal, zu wenige Einrichtungen, vermutet er und blickt in sein Kaffeehäferl.

Die Nacht vor dem Tod

Leas Zustand verschlechterte sich weiter. Im Oktober wird sie stationär im AKH aufgenommen. Am 25. Oktober hat sie Ausgang, trifft sich mit Freund:innen. Lea kommt an diesem Abend in einem guten Gemütszustand zurück. Sie soll gut drauf gewesen sein, erfährt der Vater später. Am Tag darauf steht sie morgens auf und suizidiert sich.

H. erfuhr nach einer polizeilichen Ermittlung, dass sie die Fluchtwege benutzt hatte. Denn natürlich kam die Frage auf, wie es denn überhaupt möglich für sie war, trotz Obhut im Spital auf eines der Zwischendächer zu gelangen. „Das macht nichts ungeschehen, dennoch sind hier zumindest rasch Konsequenzen gefolgt, die man andernorts seit Jahrzehnten vergeblich sucht.“

Was ist die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS)?

Die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) ist eine komplexe psychische Erkrankung, die durch Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, Selbstbild, Affekten und Impulskontrolle gekennzeichnet ist. Betroffene erleben oft intensive Stimmungsschwankungen, Wutausbrüche und haben Schwierigkeiten, ihre Emotionen zu regulieren. Selbstverletzendes Verhalten und Suizidalität sind häufige Begleiterscheinungen.

Symptome der BPS

  • Instabile Beziehungen: Wechsel zwischen Idealisierung und Abwertung von Bezugspersonen
  • Starkes Gefühl der Leere
  • Impulsivität: z.B. Geldausgabe, Sex, Substanzmissbrauch, rücksichtsloses Fahren, Essanfälle
  • Selbstverletzendes Verhalten und Suizidalität
  • Intensive Stimmungsschwankungen
  • Wutausbrüche
  • Identitätsstörung: Unsicherheit bezüglich Selbstbild, Zielen und Werten
  • Angst vor dem Verlassenwerden
  • Durch Stress bedingte Paranoia oder schwere dissoziative Symptome

Ursachen der BPS

Die Ursachen der BPS sind multifaktoriell. Es wird angenommen, dass eine Kombination aus genetischer Veranlagung und traumatischen Erfahrungen in der frühen Kindheit eine Rolle spielt. Zu den Risikofaktoren gehören:

  • Genetische Veranlagung
  • Traumatische Erlebnisse: Missbrauch, Vernachlässigung, Gewalt
  • Frühe Trennungserfahrungen
  • Psychische Auffälligkeiten in der Familie: Alkoholmissbrauch, Depressionen, Schizophrenie
  • Störungen im Gehirn: Beeinträchtigung der Kommunikation bestimmter Hirnzentren, die die emotionale Verarbeitung kontrollieren

Es ist wichtig zu betonen, dass nicht immer und automatisch die Familie "schuld" an der seelischen Erkrankung ist. Bei einem Teil der Patienten entwickelt sich die Persönlichkeitsstörung offenbar auch ohne erschütternde Erfahrungen.

Therapie der BPS

Die BPS ist behandelbar. Verschiedene psychotherapeutische Verfahren haben sich als wirksam erwiesen:

  • Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT): Vermittelt Fertigkeiten zur Emotionsregulation, Stresstoleranz und zwischenmenschlichen Kompetenz.
  • Schemafokussierte Therapie (SFT): Bearbeitet frühkindliche Schemata, die zu maladaptiven Verhaltensmustern führen.
  • Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT): Fördert die Fähigkeit, das eigene Verhalten und das Verhalten anderer zu verstehen.
  • Übertragungsfokussierte Psychotherapie (TFP): Arbeitet an gestörten Subjekt-Objekt-Beziehungen aus der Kindheit.
  • Traumatherapie (z.B. EMDR): Hilft bei der Bewältigung und Integration traumatischer Erlebnisse.

Eine Kombination aus Einzel- und Gruppentherapie sowie Krisenintervention kann sinnvoll sein. Medikamente können zur Linderung von Begleitsymptomen wie Depressionen oder Angstzuständen eingesetzt werden.

Herausforderungen im Versorgungssystem

Der Fall Lea H. verdeutlicht die Schwächen im Versorgungssystem für Kinder und Jugendliche mit psychischen Erkrankungen. Lange Wartezeiten auf Therapieplätze, häufige Wechsel von Betreuungspersonen und mangelnde Koordination zwischen den verschiedenen Institutionen können den Krankheitsverlauf negativ beeinflussen.

Ewald Lochner, kaufmännischer Leiter der Psychosozialen Dienste in Wien (PSD), betont die Notwendigkeit einer engeren Zusammenarbeit zwischen der MA 11 und der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die Nahtstellen müssen verbessert und die Kommunikation beschleunigt werden.

Borderline und Suizid

Hinsichtlich der Suizidalität legen die Verlaufsstudien eine Prävalenz von 3 bis 13 % nahe. Das Durchschnittsalter der Suizident_innen liegt zwischen 30 und 37 Jahren. Die Häufigkeit von Suizidversuchen ist bei der BPS mit 70 bis 80 % signifikant höher. Im Durchschnitt berichten die Betroffenen von drei Suizidversuchen in ihrem Leben. Gegenüber anderen psychischen Störungen ist die Anzahl von Suizidversuchen bei der BPS deutlich überrepräsentiert.

Folgende Faktoren für ein erhöhtes Suizidrisiko konnten in Verlaufsstudien identifiziert werden:

  • Männliches Geschlecht
  • Lange Krankheitsgeschichte mit unwirksamen Behandlungserfahrungen
  • Hoffnungslosigkeit
  • Lebensalter zwischen 30 und 37 Jahren
  • Substanzmissbrauch
  • Impulsivität
  • Komorbide Depression
  • Häufige stationäre Aufnahmen in der Vergangenheit
  • Frühere Suizidversuche
  • Fehlende Anbindung an ambulante therapeutische Behandlungsformen
  • Alleinlebende Wohnform
  • Geringe soziale Integration
  • Geringeres Einkommen und geringeres psychosoziales Funktionsniveau

Leben mit Borderline: Einblick in die Gefühlswelt

Für Menschen mit Borderline fühlt sich das Leben oft wie eine Achterbahnfahrt an. Das emotionale Gleichgewicht gerät schnell aus dem Gleichgewicht. Betroffene haben kaum Zugang zu ihren Gefühlen und können sie schwer einordnen. Überwältigende Aggression, Wut, Trauer bis hin zu Panik und Verzweiflung wirken auf das Umfeld irritierend und befremdlich. Menschen mit Borderline können die raschen Wechsel der Gefühle und ihre Impulsivität nicht kontrollieren, die Stimmungsschwankungen sind enorm.

Durch das gestörte Selbstwertgefühl, eine falsche Körperwahrnehmung und die gravierenden Auswirkungen von Borderline, sind Beziehungen für Borderliner sehr schwierig. Sie sind oft sehr unsicher. Der Wechsel zwischen Selbstliebe und Selbsthass sowie Idealisierung und Abwertung, bis hin zu Verachtung des Gegenübers, erfolgen meist spontan. Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung suchen intensive Nähe, doch gleichzeitig ist genau diese auch bedrohlich. Personen mit BPD sind oft besitzergreifend und eifersüchtig, sie möchten den Partner ganz für sich. Sie haben massive Angst vor dem verlassen oder verraten werden. Diese Angst kann zwar unbegründet sein, doch schon kleinste “Fehler” kränken Betroffene und führen zu Misstrauen.

Ein Aufruf zur Achtsamkeit und Unterstützung

Der Fall Lea H. ist eine Mahnung, die Bedürfnisse von Menschen mit psychischen Erkrankungen ernst zu nehmen und ihnen eine adäquate Versorgung zukommen zu lassen. Es braucht mehr Ressourcen, besser ausgebildetes Personal und eine engere Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Institutionen. Nur so kann verhindert werden, dass sich Tragödien wie diese wiederholen.

Hilfsangebote

Du bist in einer verzweifelten Lebenssituation und brauchst Hilfe? Hol sie dir:

  • Wende dich an vertraute Menschen. Oft hilft bereits das Sprechen über die Gedanken, sie zumindest vorübergehend auszuräumen und sich anschließend gemeinsam mit der Vertrauensperson Hilfe zu holen.
  • Telefon-Seelsorge: 142
  • Rat auf Draht für Kinder und Jugendliche: 147
  • Ö3-Kummernummer: 116 123

Prävalenz der Borderline-Persönlichkeitsstörung

Die nachfolgende Tabelle zeigt die geschätzte Prävalenz der Borderline-Persönlichkeitsstörung in verschiedenen Versorgungsbereichen:

Versorgungsbereich Geschätzte Prävalenz
Außerstationär-psychiatrische Versorgungsangebote 12%
Stationär-psychiatrische Angebote 22%

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