Bipolare Störung und Schuldfähigkeit: Eine Analyse

Bei affektiven Erkrankungen kann es im Kontext unterschiedlicher Symptome zu delinquenten Verhaltensweisen im juridischen Sinne kommen, wenngleich laut mehreren Untersuchungen im deutschsprachigen Raum affektive Erkrankungen einen eher geringen Anteil an der psychischen Krankheitslast von straffällig gewordenen Personen darstellen und auch im Maßnahmenvollzug nur einen geringen Teil des Patientenkollektivs betreffen.

Im internationalen Vergleich scheint es hier zu teils widersprüchlichen Beobachtungen zu kommen. Für Nordamerika wird beispielsweise ein deutlich höherer Anteil affektiv Erkrankter in Haftanstalten sowie forensisch-psychiatrischen Krankenanstalten berichtet. Während Kollegen aus Nordamerika nach DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 4th Edition) eher eine affektive Erkrankung [manische (DSM-IV 296.44) oder depressive Episode (DSM-IV 296.34)] mit psychotischen Merkmalen diagnostizieren, würde ein und derselbe Patient in Europa, orientiert am ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases 10th, edition), eher die Diagnose einer Schizophrenie erhalten.

Es zeigen sich auch Unterschiede bei der Betrachtung affektiv erkrankter Frauen im Gegensatz zu Männern. Untersuchungen beschreiben ein doppelt so hohes Risiko für erkrankte Männer straffällig zu werden, bei Gewaltverbrechen liegt die Rate sogar sechsmal so hoch. Hierbei ist anzumerken, dass sich die Delinquenz affektiv Erkrankter in der Regel gemäß ihrer Symptomatik unterscheidet, so schlagen sich psychopathologische Unterschiede typischerweise auch in den mit der Erkrankung vergesellschafteten Delikten nieder.

Delikte im Zusammenhang mit affektiven Störungen

Tötungsdelikte mit anschließendem Suizid oder Suizidversuch werden häufig als typisches Delikt bei bestehender depressiver Erkrankung verstanden, wobei dies lediglich auf zwei Drittel der Fälle zutreffen dürfte, der Rest verteilt sich auf Personen mit Schizophrenie oder Persönlichkeitsstörungen. Auch kann eine depressive Erkrankung in vielen Fällen zu einer eingeschränkten oder aufgehobenen Erwerbsfähigkeit führen, welche wiederum sekundär vor allem Eigentumsdelikte oder Ersatzfreiheitsstrafen bei Zahlungsverzug bedingen können.

Den Gegensatz hierzu bilden Delikte, die typischerweise im Rahmen von Manien begangen werden. Durch relative Selbstüberschätzung und einen gesteigerten Antrieb kommt es beispielsweise vermehrt zu Verstößen gegen die gesellschaftliche Ordnung. Hinsichtlich der Prognose einer weiteren bzw. erneuten Delinquenz zeigen sich Unterschiede zwischen depressiven und manischen Zustandsbildern. Betrachtet man Straftaten im Rahmen von Depressionen, so ist bei adäquater Therapie von einem eher geringen Risiko erneuter Delinquenz auszugehen.

Lesen Sie auch: Umfassender Überblick: Bipolare Störung

Bei manischen Zustandsbildern muss der Umstand der möglichen Dissimulation in Betracht gezogen werden. Wird die Erkrankung nicht erkannt und demnach nicht adäquat behandelt, ist jedoch auch nicht von einer Risikoreduktion hinsichtlich weiterer potenzieller Straftaten auszugehen. In Fällen von affektiven Störungsbildern kann obendrein ein erheblicher Anteil an komorbiden Substanzabhängigkeiten (F1X), inklusive Alkohol, erfasst werden. Verschiedene Autoren sprechen von rund 20 bis 60 Prozent an affektiv erkrankten Häftlingen, die eine komorbide F1X-Diagnose nach ICD-10 aufwiesen.

Einschränkung der Einsichts- und Urteilsfähigkeit

Im Rahmen gewisser Befundkonstellationen können sich Symptome affektiver Erkrankungen auch auf die Einsichts- und Urteilsfähigkeit von Patienten zum Deliktzeitpunkt auswirken und in der Folge strafrechtlich relevante Folgen haben. Trotz der relativ hohen Prävalenzraten von affektiven Störungen in Haft spielen diese im Maßnahmenvollzug nach §21 Abs 1 StGB, also in der Betreuung psychisch kranker, zurechnungsunfähiger Straftäter, nur eine untergeordnete Rolle.

Besonders im Rahmen solcher manischen Episoden mit psychotischen Symptomen, aber auch bei schweren depressiven Episoden mit psychotischen Symptomen ist eine etwaige Kausalität der Symptomatik auf die begangene Straftat zu beleuchten und adäquat zu behandeln. Zur Abklärung einer potenziellen Zurechnungsunfähigkeit zum Deliktzeitpunkt wird meist nach der Festnahme durch das zuständige Gericht ein externer psychiatrischer Sachverständiger beauftragt, ein medizinisch-psychiatrisches Gutachten über den Beschuldigten zu erstellen.

Seit dem Jahr 1975 ist in Österreich im §11 des Strafgesetzbuches (StGB) verankert, dass eine Person nicht schuldhaft handelt und demnach auch nicht bestraft werden darf, wenn diese zum Tatzeitpunkt aufgrund einer „Geisteskrankheit, einer geistigen Behinderung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder einer anderen schweren, einem dieser Zustände gleichwertigen seelischen Störung“ unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen (Diskretionsvermögen) oder nach dieser Einsicht zu handeln (Dispositionsvermögen). Die Fragestellung an den Gutachter ist folglich zu beurteilen, ob eine zugrundeliegende psychische Störung vorliegt und ob diese sich zum Tatzeitpunkt auf die Erkenntnisfähigkeit und Willensbildung ausgewirkt hat. Dies wird durch §429 Abs 4 der Strafprozessordnung (StPO) geregelt.

Für die Einweisung in die vorbeugende Maßnahme nach §21 Abs 1 StGB müssen gewisse Voraussetzungen gegeben sein. Das Strafmaß für das begangene Delikt muss die Dauer von einem Jahr überschreiten. Ferner muss eine ungünstige krankheitsbedingte Kriminalprognose bestehen, bei der ein weiteres schweres Delikt zu erwarten ist. Die Anordnung einer vorbeugenden Maßnahme erfolgt auf unbestimmte Zeit, die Notwendigkeit einer Fortsetzung wird jedoch einmal jährlich überprüft. Ein wesentliches Ziel ist ein Abbau der Gefährlichkeit, um den Schutz der Gesellschaft zu gewährleisten.

Lesen Sie auch: Überblick: Bipolare Störung & Behinderung

Diese betrifft zum Tatzeitpunkt zurechnungsfähige psychisch kranke Straftäter (häufig Personen mit Persönlichkeitsstörung, die ein Sexualdelikt begehen) und spielt bei Personen mit affektiven Störungen kaum eine Rolle. Bei einer Einweisung in den Maßnahmenvollzug nach §21 Abs 2 StGB wird von einer (teilweisen) Schuldfähigkeit ausgegangen, weshalb verurteile Personen sowohl eine entsprechende Therapie im Rahmen der Maßnahme erhalten, aber ebenso die Dauer der ausgesprochenen Strafhaft verbüßen müssen.

Im Falle einer rechtskräftigen Einweisung in die Maßnahme nach §21 Abs 1 erfolgt die weitere Behandlung und Betreuung in speziellen Zielanstalten. Mit 31.12.2018 befanden sich laut des Berichts „Maßnahmenvollzug §21 Abs 1 StGB“ 542 Untergebrachte im österreichischen Maßnahmenvollzug. Die Anzahl an vorläufig Angehaltenen gemäß §429 Abs 4 StPO belief sich im Jahre 2018 auf 75 Personen. Die kumulierte Prävalenz beider Gruppen weist den bisher höchsten Wert auf und überschritt erstmalig die 600er-Schwelle.

Im Jahr 2007 belief sich die Prävalenz der affektiven Erkrankungen im Maßnahmenvollzug auf lediglich 2,8 Prozent, während 70,6 Prozent der Patienten eine Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis aufwiesen. Die Gesamtzahl der Einweisungen in den Maßnahmenvollzug ist in den letzten vier Jahren exorbitant gestiegen.

Entlassungen aus dem Maßnahmenvollzug sind durch §47 Abs 2 StGB geregelt und werden initial stets bedingt, das heißt an bestimmte Voraussetzungen gebunden, ausgesprochen. Die bedingte Entlassung erfolgt gewöhnlich unter einer Probezeit von fünf bis zehn Jahren, wenn die Gefährlichkeit nicht mehr gegeben und von einem „redlichen Fortkommen“ auszugehen ist.

Weiters werden verbindliche Weisungen durch das Gericht ausgesprochen, wie z.B. regelmäßige fachärztlichpsychiatrische Kontrolluntersuchungen und Adhärenz der verordneten Psychopharmakotherapie, die mittels Plasmaspiegelbestimmungen verifiziert wird, Screenings hinsichtlich Konsum illegaler psychotroper Substanzen und betreutes Wohnen zur Erleichterung der Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Der betreuende Facharzt ist dazu verpflichtet, regelmäßige Berichte an das zuständige Gericht zu verfassen (zumeist einmal im Quartal). Werden Auflagen nicht eingehalten, wird das zuständige Gericht unverzüglich darüber informiert.

Lesen Sie auch: Die Auswirkungen der bipolaren Störung auf Familien

Suizidalität und Haft

Ein weiteres, äußerst wichtiges Thema im Kontext von Patienten mit affektiven Störungen ist die deutlich erhöhte Suizidbelastung. Diese liegt nach einmaligem stationären Aufenthalt um die 15 Prozent bei unipolarer Depression und bei Vorliegen einer bipolar-affektiven Störung sogar bei 15 bis 30 Prozent.

Suizid und beinahe tödliches, selbstverletzendes Verhalten stellen bei inhaftierten Personen ein nicht zu unterschätzendes Risiko dar. In einer Datenerhebung aus zwölf westlichen Staaten hat sich gezeigt, dass das relative Risiko eines Suizides bei Inhaftierten deutlich höher ist als in der Normalbevölkerung. Im Jahr 2018 waren im europäischen Mittel 22,7 Prozent der Todesfälle in Haft auf einen Suizid zurückzuführen, wobei auch von einer Dunkelziffer bei den ungeklärten Todesursachen ausgegangen werden muss.

Wie aus dem jährlichen Bericht des Europarates zum Strafvollzug der Mitgliedstaaten hervorgeht, melden die meisten europäischen Länder jährliche Suizidraten zwischen 100-150 pro 100.000 Insassen. In Österreich lag die Suizidrate im Jahr 2018 bei 132,3 pro 100.000 Insassen, was mehr als dem Neunfachen der Suizidrate der österreichischen Allgemeinbevölkerung (14,5 pro 100.000 Einwohner) entspricht.

Ein erhöhtes Risiko besteht bei denjenigen Personen, die unter einer psychischen Erkrankung leiden. Neben affektiven Störungen sind Substanzabhängigkeiten und Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis zu nennen, wobei Komorbiditäten eine wichtige Rolle spielen. Ein besonderes Risiko zeigt sich auch bei Personen, bei denen bereits in der Vergangenheit suizidale Handlungen dokumentiert sind und bei denjenigen, die unter akuten Suizidgedanken leiden. Das Gefährdungsrisiko für einen Suizid ist in den ersten 30 Tagen nach der Inhaftierung am höchsten.

Eine andere besondere Gefährdung ergibt sich zudem durch soziale Isolation, wie sie beispielsweise bei Unterbringung in einem Einzelhaftraum auftritt. Das soziale Umfeld eines Gruppenhaftraumes kann eine wichtige Ressource darstellen, man kann sich unter „Peers“ austauschen und ist somit eher bereit, sich gegenüber Professionisten zu öffnen und ist in weiterer Folge eher einer ärztlichen oder psychologischen Behandlung zugänglich. Weiters werden Gelegenheiten, einen Suizid zu begehen, durch Mitinsassen im Haftraum reduziert, was zusätzlich zu den niedrigeren Suizidraten in Mehrpersonenhafträumen beiträgt.

Einen weiteren Risikofaktor stellt die Dauer der ausgesprochenen Haftstrafe dar. Während eine lebenslange Haftstrafe mit einem erhöhten Risiko einhergeht, wirkt sich eine Haftstrafe von unter 18 Monaten protektiv aus. Ein Grund hierfür könnte einerseits sein, dass suizidgefährdete Insassen nicht ausreichend vom Justizpersonal wahrgenommen werden können.

Ein anderer Nachteil von überbelegten Haftanstalten (Crowding) in Bezug auf Suizidraten könnte sich durch Überforderung durch besonders verschärfte Lebensumstände von Insassen ergeben. Mit einem niedrigen Betreuungsverhältnis und einem Überbelag von Hafträumen reduzieren sich auch die Möglichkeiten, sinnstiftenden Tätigkeiten und förderlichen sozialen Interaktionen nachzugehen.

Österreich bewegt sich mit der Auslastung von Haftanstalten über dem europäischen Mittelfeld. Aus der konstant hohen Prävalenz von Suiziden in Haft hat sich die Notwendigkeit ergeben, ein besonderes Augenmerk auf die Prävention zu legen. Im praktischen Umgang hat dies auch international zu konkreten Maßnahmen geführt, die zu einem Rückgang der Suizidraten beitragen konnten.

Präventionsmaßnahmen

Bereits bei der Inhaftierung sollte ein sorgfältiges Screening für selbstgefährdendes Verhalten erfolgen, dabei sollte nicht nur der gegenwärtige Eindruck, sondern auch die psychiatrische Anamnese, vor allem auch hinsichtlich affektiver Erkrankungen einfließen. In Wien wurde ein spezielles Instrument unter dem Acronym „VISCI“ (Viennese Instrument for Suicidality in Correctional Institutions) entwickelt. Mittels VISCI erfolgt eine ärztliche bzw.

Neben der anfänglichen Risikoevaluation sollte die Suizidalität auch in regelmäßigen Intervallen durch psychiatrisches Fachpersonal weiter evaluiert und eingeschätzt werden. Hiermit lassen sich besonders gefährdete Personen besser schützen, indem spezielle Präventionsmaßnahmen eingeleitet werden können. Neben einer möglichst kontinuierlichen, intensiven psychiatrischen Behandlung und Betreuung der Insassen und einer adäquaten Psychopharmakotherapie werden zudem regelmäßige Schulungsmaßnahmen für das Justizpersonal, forciert.

Zu ganz konkreten, unmittelbaren Präventionsmaßnahmen, Suizide in Haft zu verhindern, gehört auch die bauliche Gestaltung von Hafträumen. In diesem Kontext stellen die vorübergehende Verlegung in besonders gesicherte, videoüberwachte Hafträume und auch die Sicherstellung potenziell gefährlicher Gegenstände, die für autoaggressive und suizidale Handlungen benützt werden könnten, wichtige Schritte dar.

Abschließend ist zu sagen, dass die richtige Diagnosestellung gefolgt von einer adäquaten, leitlinienbasierten Behandlung affektiver Störungen essenziell sind, um Betroffene sowohl vor schwerwiegenden Komplikationen ihrer Erkrankung, wie Suizidalität, als auch delinquenten Verhaltensweisen bestmöglich zu schützen. Auch in der Versorgungspsychiatrie sollten mögliche forensische Aspekte affektiver Störungen daher in Behandlungsentscheidungen miteinfließen.

Prävalenz affektiver Störungen im Massnahmenvollzug (Österreich, 2007)

Erkrankung Prävalenz
Affektive Erkrankungen 2,8%
Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis 70,6%

tags: #bipolare #störung #schuldfähigkeit