In Beziehungen kann es immer wieder zu Konflikten, Streit und Unstimmigkeiten kommen, was völlig normal ist. Schwieriger wird es, wenn Konflikte so ausgetragen werden, dass ein permanentes Ungleichgewicht entsteht und eine Seite Schaden nimmt.
Eine Frage, mehrere Antworten: Manchmal hilft es, ein Problem aus mehreren Perspektiven zu betrachten. Es gibt mehr als schwarz und weiß, richtig oder falsch. Eigentlich wissen wir das.
Hier lesen Sie die Antworten, die uns Expertinnen und Experten auf die Frage gegeben haben: "Wie kann eine Beziehung trotz ADHS oder psychischen Erkrankungen funktionieren?"
Expertinnen und Expertenmeinungen
Paula Lambert: Sich selbst erkennbar machen und reden, reden, reden
Ich habe auch ADHS und das funktioniert. In einer Beziehung muss man sich sowieso erkennbar machen. Wer bin ich? Wie ticke ich? Was triggert mich? Und je ehrlicher man damit umgeht, desto einfacher wird die Beziehung. Natürlich kann man von jemandem mit ADHS nicht erwarten, dass er oder sie die mega Struktur hat. Das ist einfach nicht so. Darauf muss sich der andere einlassen. Aber gleichzeitig hat der andere auch ein Recht darauf, bestimmte Dinge in einer bestimmten Weise haben zu wollen. Alles ist ein Kompromiss.
Und psychische Erkrankungen, wie Depressionen - das ist natürlich schwierig für den anderen, damit umzugehen, aber gleichzeitig ist es nicht unmöglich.
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Prof. Dr. Simon Eickhoff: Hinterfragen, wie sehr eine Erkrankung die Beziehung bestimmt
Hier würde ich die Frage allgemeiner sehen, da die Situation letztendlich bei jeder Erkrankung ähnlich ist. ADHS unterscheidet sich also in dieser Hinsicht nicht grundsätzlich von Diabetes oder einer anderen körperlichen Erkrankung. Jede Erkrankung bringt Einschränkungen mit sich, die natürlich auch Auswirkungen auf Beziehungen haben. Ob eine Beziehung funktioniert trotz einer - seelischen oder körperlichen - Erkrankung, hängt dann letztlich davon ab, dass es in der Beziehung genug Positives auf beiden Seiten gibt, unabhängig von der Erkrankung.
Was hinzukommt, ist, wie sich jemand selbst im Hinblick auf seine Erkrankung definiert. Bin ich ein 'Erkrankter' oder jemand, der 'mit einer Erkrankung lebt'. Die Frage, wie sehr man sich mit der Erkrankung identifiziert und diese auch eine Beziehung bestimmen lässt, gilt für körperliche und psychische Erkrankungen gleichermaßen.
Philosophisch könnte man bei dieser Frage sagen, dass es erst einmal darum geht, dass die Partner sich in ihrer jeweiligen Besonderheit kennen, erkennen, anerkennen. Und dann ist wichtig, das im Alltag auch entsprechend zu berücksichtigen. Das kann ganz konkret bedeuten: Der anderen Person also zum Beispiel keine Vorwürfe machen, wenn man doch genau weiß, dass die andere Person etwas nicht absichtlich getan hat.
Sharon Brehm: Platz für die Bedürfnisse beider schaffen
Das Erste ist natürlich, egal ob ich jetzt psychisch krank oder körperlich krank bin, egal welche Hautfarbe ich habe - jeder hat Liebe verdient.
Bei einer psychischen Erkrankung oder wenn man das Gefühl hat, es gibt auf dieser Ebene ein Ungleichgewicht, ist es wichtig, dass auf der einen Seite Rücksichtnahme, Verständnis und die Fähigkeit, Sachen nicht persönlich zu nehmen, vorhanden sind. Das ist nicht immer einfach. Aber genauso wichtig ist es, dass auch die Person, die gerade andere Themen mitbringt, auch Rücksichtnahme zeigt.
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Manchmal erlebe ich das so: Nehmen wir an, eine Person hat eine Krankheit - da dreht sich dann viel um die Belange der einen Person. Und das führt langfristig zu einem Ungleichgewicht, sodass die Person, die sich um die andere kümmert, irgendwann nicht mehr das Gefühl hat, sie sei ein Partner auf Augenhöhe. Sie hat das Gefühl, sie muss dauernd stark sein, muss ihre eigenen Bedürfnisse runterschlucken. Und das kann zu Kränkungen oder auch zu Unwissenheit führen, wie man seine eigenen Bedürfnisse benennen kann. Und umgekehrt ist es für die andere Person manchmal schwierig, wenn sie diejenige ist, die 'schwach' ist oder das Problem hat.
In solchen Konstellationen ist wahnsinnig wichtig, dass man versucht, für beide Bedürfnisse Platz zu schaffen, ohne dass man sie bewertet. Und ja, es wird wahrscheinlich in der Tendenz eher um die Person gehen, die gerade durch eine emotionale oder psychische Krise geht. Trotzdem ist es genauso wichtig, die Bedürfnisse der anderen Person wahrzunehmen, weil man ein Paar ist und eben nicht Vater und Kind oder Mutter und Kind.
Tanja Hoyer: Sich selbst und die andere Person mit allen Wehwehchen akzeptieren
Wir haben heute mehr und mehr Menschen mit ADHS, psychischen Erkrankungen, Menschen aus dem Autismus-Spektrum, Menschen mit sonstigen Beeinträchtigungen in unserer Gesellschaft. Das heißt, wir sollten damit ein gutes Miteinander finden. Ich hatte selber vor Jahren Depressionen und war auch in einer Partnerschaft. Es gibt natürlich Punkte, da ist es nicht einfach, miteinander in guten Kontakt zu kommen. Aber wichtig zu wissen ist, dass mein Leben und meine eigene psychische Verfassung ja erst mal nichts mit dem anderen Menschen zu tun hat. Das ist mein Space. Der andere darf so sein, wie er ist, mit seinen Wehwehchen oder eben mit keinem Wehwehchen. Und ich darf so sein, wie ich bin.
In Paarsitzungen arbeite ich oft mit einer Skizze: ein Kreis für dich, ein Kreis für deinen Partner und ein Kreis, der das verbindet, was für euch beide miteinander schön ist, also die Schnittmenge. Wenn du dich gut versorgst und wenn dein Partner gut versorgt ist, geht es darum, wie ihr dieses Wir schön gestalten könnt. Ein klassisches Bild nach dem Motto: 'Genau so muss eine Beziehung sein!' ist da nicht hilfreich. Denn eigentlich geht es um die Frage: Wie soll deine Beziehung sein, mit dem, was du mitbringst, mit ADHS oder ohne? Oder mit einer psychischen, sozialen oder körperlichen Beeinträchtigung? Wie kannst du mit dem anderen glücklich sein und dich im Beziehungsleben so einrichten, dass du erfüllt bist? Finde die Beziehung, die dich glücklich macht.
ADHS in Beziehungen: Herausforderungen und Lösungen
In meiner Arbeit mit Erwachsenen, die von ADHS betroffen sind, wird deutlich, wie stark diese Diagnose nicht nur das eigene Leben beeinflusst, sondern auch das Miteinander in engen Beziehungen. Besonders in Liebesbeziehungen, in denen einer der beiden Partner ADHS hat und der andere nicht, entstehen häufig spezifische Spannungsfelder. Immer wieder schildern mir Paare in solchen Konstellationen, wie schwierig es ist, sich gegenseitig wirklich zu verstehen - trotz aller Zuneigung. Fragen tauchen auf, Unsicherheiten wachsen, und nicht selten entsteht eine tiefe Erschöpfung auf beiden Seiten. ADHS betrifft eben nicht nur die betroffene Person - sondern oft auch ganz unmittelbar den Menschen, der ihr am nächsten steht.
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Gerade in der Kennenlernphase kann diese Konstellation jedoch zunächst äußerst reizvoll sein: Menschen mit ADHS bringen oft eine besondere Intensität, Lebendigkeit und Spontaneität mit in die Beziehung. Ihre Fähigkeit, sich in der Anfangszeit stark zu fokussieren - auch als Hyperfokus auf eine Person bekannt - kann dazu führen, dass sie sehr aufmerksam, leidenschaftlich und emotional präsent wirken.
Mit der Zeit jedoch, wenn der Alltag einkehrt, verschiebt sich dieses Gleichgewicht oft. Der Hyperfokus lässt nach, neuropsychologische Kernsymptome wie Ablenkbarkeit, Impulsivität, emotionale Dysregulation und Schwierigkeiten mit der Alltagsstruktur treten mehr in den Vordergrund. In Übergangsphasen wie einem Umzug zeigt sich häufig die typische Reizüberflutung bei ADHS - der Überblick geht schnell verloren, auch wenn Motivation und Engagement hoch sind.
Was zu Beginn als quirlig und kreativ wahrgenommen wurde, kann nun als chaotisch, unzuverlässig oder konflikthaft erlebt werden. Gerade dann beginnen viele Paare, nach Erklärungen und Lösungen zu suchen - und nicht selten fällt erst in dieser Phase überhaupt der Verdacht auf ADHS.
Typische Herausforderungen und Lösungsansätze
- Vergesslichkeit und Schwierigkeiten, Absprachen einzuhalten: Termine werden vergessen, Besorgungen nicht erledigt, Verabredungen übersehen - und das, obwohl der ADHS-Partner sich eigentlich Mühe gibt. Die Schwierigkeiten im Arbeitsgedächtnis und in der Handlungsplanung gehören zu den Kernsymptomen von ADHS. Es geht nicht um ein „sich nicht kümmern wollen“, sondern um eine gestörte Steuerung von Aufmerksamkeit und Priorisierung.
- Emotionale Impulsivität: Viele Menschen mit ADHS erleben Emotionen besonders intensiv - sowohl in der positiven als auch in der negativen Ausprägung. Sie reagieren schneller, unmittelbarer und oft auch stärker als andere - und das kann in der Dynamik einer Beziehung sehr herausfordernd sein. Die emotionale Dysregulation bei ADHS lässt sich gut behandeln - sowohl psychotherapeutisch als auch medikamentös.
- Desorganisation im Alltag und Rollenungleichgewicht: Viele Partner:innen von Menschen mit ADHS berichten, dass sie mit der Zeit immer mehr Verantwortung übernehmen, weil sonst „nichts passiert“. Klare Absprachen, strukturierende Hilfsmittel und eine sinnvolle Aufgabenverteilung können hier entlasten.
- Hyperfokus und Rückzug: In bestimmten Momenten kann eine Person mit ADHS über Stunden hinweg völlig in eine Tätigkeit versinken. Verständigung über Zeitrahmen, bewusste Planung von Paarzeit und gegenseitige Rücksichtnahme helfen, dieses Phänomen besser in den Beziehungsalltag zu integrieren.
- Verantwortungsungleichgewicht und emotionale Erschöpfung: Der nicht betroffene Partner gleitet oft in eine Elternrolle, während der ADHS-Partner sich zurückzieht oder kindlich wirkt. Diese Muster entstehen meist unbewusst, lassen sich aber durch bewusste Rollenneuverteilung, Unterstützung von außen und klare Grenzen wieder verändern.
Strategien für ein besseres Miteinander
- Verstehen, was ADHS ist: ADHS ist keine Charakterschwäche, sondern eine neurobiologische Besonderheit mit weitreichenden Folgen für Aufmerksamkeit, Impulskontrolle und Selbststeuerung.
- Kommunikation - regelmäßig und ehrlich: Offene Gespräche über Bedürfnisse und Belastungen stärken die Beziehung - nicht nur im Streit, sondern besonders auch dazwischen.
- Alltag strukturieren - gemeinsam statt kontrollierend: Hilfsmittel wie gemeinsame Kalender, Listen oder Routinen helfen, Klarheit und Verlässlichkeit herzustellen - für beide Seiten.
- Stärken nutzen, nicht nur Schwächen ausgleichen: ADHS bringt auch Ressourcen: Kreativität, Leidenschaft, Empathie. Eine kluge Aufgabenteilung kann die Beziehung sogar bereichern.
- Unterstützung annehmen - von außen und miteinander: Paartherapie, Coaching oder medikamentöse Behandlung können entscheidend helfen - aber nur, wenn beide bereit sind, sich einzubringen.
- Selbstfürsorge nicht vergessen: Selbstfürsorge ist keine Schwäche - sondern Voraussetzung für echte Verbindung.
ADHS als Bereicherung sehen
Personen mit ADHS sollten sich der Tatsache bewusst sein, dass die ADHS nicht nur belastende Faktoren mit sich bringt, sondern Betroffene i.d.R. auch über eine ganze Reihe positiver Eigenschaften und Fähigkeiten verfügen. Viele Menschen mit ADHS haben ein schlechtes Selbstbild, weil sie von Kindheit an zu hören bekamen, dass sie irgendwie nicht richtig, falsch, lästig und störend seien.
Erwachsene Personen mit ADHS wirken auf ihre Beziehungspartner*innen meist unkonzentriert. instabil, unaufmerksam, vergesslich oder leicht ablenkbar. Neurotypische Partner*innen sind oft entlastet, wenn Sie erfahren, dass viele sexuelle Schwierigkeiten und Beziehungsprobleme mit ADHS zu tun haben und nichts mit ihnen.
Wenn in einer Beziehung eine Person mit ADHS lebt, bringt das zwar manches durcheinander - aber es kann auch vieles in Bewegung bringen. Wer bereit ist, einander wirklich zuzuhören, Eigenverantwortung zu übernehmen und gemeinsam Strukturen zu finden, schafft eine Verbindung, die tief, lebendig und belastbar sein kann.
ADHS muss nicht trennen. Im Gegenteil: Mit Wissen, Klarheit und gegenseitigem Verständnis entsteht oft eine besondere Form von Nähe - eine, die nicht auf Perfektion basiert, sondern auf Echtheit, Humor und der Bereitschaft, sich gemeinsam weiterzuentwickeln.