Menschen mit psychischen Erkrankungen sowie ihre Angehörigen und alle mit diesem Themenfeld befassten Berufsgruppen erfahren aufgrund von Stereotypen und Vorurteilen viele Benachteiligungen.
Die Folgen sind oft geringere Chancen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, Verlust naher Beziehungen und sozialer Kontakte sowie Schwächung des Selbstwertgefühls.
Diese Belastungen erhöhen das Risiko für Rückfälle oder für einen chronischen Krankheitsverlauf. Expertinnen und Experten sprechen daher von Stigma als „zweiter Erkrankung“.
Die Kampagne #darüberredenwir in Wien
Mit neuem Design und Schwerpunkten sprechen die Psychosozialen Dienste in Wien mit der Kampagne #darüberredenwir ab sofort vor allem junge Menschen an.
Faktenbasiertes Wissen wird zielgruppengerecht und niederschwellig bereitgestellt.
Lesen Sie auch: Stigma psychischer Erkrankungen verstehen
Zudem sollen psychischen Erkrankungen und den Erkrankten selbst in all ihren Facetten Raum geboten werden - denn nach wie vor sind Schizophrenie, Suchterkrankungen oder Essstörungen mit Vorurteilen behaftet.
Mythen und falsche Annahmen kursieren weiterhin nach wie vor rund um psychiatrische Behandlungsmöglichkeiten und Einrichtungen.
„Das Thema psychische Gesundheit hat es in die Mitte der Gesellschaft geschafft - meint man. Doch bei genauerem Hinhören, sehen wir, dass der öffentliche Diskurs nur an der Oberfläche kratzt. #Selfcare und Selbstoptimierung geben uns das Gefühl, jede*r kann es schaffen, aus einer psychischen Krise mit ein bisschen Bewegung und Therapie herauszukommen. Das stimmt allerdings nicht“, erklärt Ewald Lochner, Koordinator für Psychiatrie, Sucht und Drogenfragen der Stadt Wien.
Nach wie vor mangelt es laut Lochner an Wissen rund um Diagnosen, Behandlungsformen und Umgang mit psychischen Erkrankungen.
Zudem spiele die Ressourcenfrage auch beim Thema psychische Gesundheit eine wichtige Rolle: „Die aktuellen Krisen - sei es Pandemie, Krieg, Teuerung oder die Klimakatastrophe - treffen uns alle, doch wir sitzen nicht alle im selben Boot. Wir alle befinden uns auf der stürmischen See, doch während manche auf einer Luxusyacht sicher sind, müssen andere auf einem wackeligen Floss gegen die Fluten ankämpfen.“
Lesen Sie auch: Adipositas: Der psychische Faktor
Bei Kindern und Jugendlichen haben sich die psychischen Problematiken und diagnostizierten Erkrankungen in den vergangenen Jahren stark erhöht.
Zahlreiche Studien belegen den Anstieg von Suizidgedanken, Angsterkrankungen und Essstörungen.
Zudem belegt unter anderem die in den letzten drei Jahren durchgeführte SORA-Studie zur psychosozialen Situation der Wiener*innen, dass bestehende Hilfsangebote von Betroffenen spät oder gar nicht Anspruch genommen werden.
„Wichtig ist, dass junge Menschen über die Behandlungs- und Unterstützungsangebote Bescheid wissen. Außerdem dürfen sie nicht zögern, Hilfe zu holen, falls es nötig ist und auch hinschauen, wenn es im Freundeskreis Probleme gibt“, betont Primar Dr. Georg Psota, Chefarzt der Psychosozialen Dienste in Wien.
Mit den aktuellen Sujets will der PSD-Wien wach rütteln, zur Selbstreflexion anregen und alle Facetten der psychischen Gesundheit sichtbar machen.
Lesen Sie auch: Erziehung ohne Gewalt
2019 starteten die Psychosozialen Dienste in Wien die Kampagne zur Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen #darüberredenwir.
Was als kleine Initiative startete, fand großen Anklang in der Wiener Bevölkerung.
Der Staatspreis in der Kategorie „Digitale Kommunikation“ im Jahr 2020 unterstrich die Bedeutung der Kampagne.
Die Kompetenzgruppe Entstigmatisierung
Wegen der Komplexität und Hartnäckigkeit des Phänomens Stigma wurde von der Arbeitsgruppe zum Gesundheitsziel 9, das Etablieren einer „Kompetenzgruppe Entstigmatisierung“ angeregt.
Diese soll Expertise aus Wissenschaft, Versorgungspraxis, Verwaltung, Kultur, Medien sowie Erfahrungswissen bündeln und ein koordiniertes Vorgehen gegen das Stigma psychischer Erkrankungen entwickeln.
Die Kompetenzgruppe Entstigmatisierung ist eine Initiative des BMASGPK, des FGÖ und des DVSV. Kooperationspartner sind u.a. BMB und BMWKMS.
Durch die interdisziplinäre und multiperspektivische Expertise der Kompetenzgruppe soll ein breites, gemeinsames, wirkungsorientiertes und koordiniertes Vorgehen gegen Stigmatisierungen psychischer Erkrankungen gebündelt werden.
Hierfür wird ein akkordiertes Produkt in Form eines Empfehlungskatalogs erarbeitet.
Grundlage für dieses koordinierte multistrategische Vorgehen ist die Entwicklung von Empfehlungen für unterschiedliche Ebenen von Stigma in Form von Zwischenberichten.
Zwischenbericht direkte Stigmatisierung: Empfehlungen zur Reduktion direkter Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen.
Evaluierung der WPA-Kampagne „Schizophrenie hat viele Gesichter“
Fünf Jahre nach Beendigung der Österreichischen WPA-Kampagne „Schizophrenie hat viele Gesichter“ zeigt ihre Evaluierung, dass in der Bevölkerung keine Veränderungen der gängigen Vorurteile gegenüber an Schizophrenie Erkrankten bewirkt werden konnten.
Eine Kampagne reicht offensichtlich nicht aus, um tief verwurzelte Einstellungen zu beeinflussen, sodass zukünftige Anti-Stigma-Aktivitäten über einen langen Zeitraum durchgeführt werden sollten.
Obwohl dieses Ergebnis nicht ermutigend erscheint, war diese weltweite WPA-Kampagne wichtig.
Stigma und Diskriminierung, die in Folge von psychischen Erkrankungen auftreten können, sind ein tief verwurzeltes Phänomen und sie werden als eine - wenn nicht die - wesentliche Barriere für die Inanspruchnahme von Hilfen, für die Qualität der Behandlung, für die Genesung von Patienten sowie für die Entwicklung der psychischen Gesundheitsversorgung angesehen.
Neben der „direkten Diskriminierung“ durch Mitmenschen, findet sich auch eine sogenannte „strukturelle Diskriminierung“, die aus dem Hilfesystem erwächst, das eigentlich für die Behandlung dieser Kranken zuständig wäre.
Darunter fallen u. a. Spirale der Benachteiligung: Dies alles trägt zur Spirale der Benachteiligung bei, was eine deutliche Einschränkungen von Partizipation und Lebensqualität der von psychischer Erkrankung Betroffenen und ihren Angehörigen zur Folge hat.
Da all dies erkannt wurde, rückte die Beschäftigung mit dieser Thematik in den vergangenen 15 Jahren verstärkt in das Blickfeld von Fachwelt und Forschung.
Die WPA-Kampagne „Open the Doors“
„Schizophrenie hat viele Gesichter“: In diesem Kontext rief die World Psychiatric Association (WPA) im Jahre 1996 die Anti-Stigma-Kampagne „Open the Doors - against Stigma and Discrimination because of Schizophrenia“ ins Leben.
Dieser Initiative schlossen sich über 20 Staaten an. In Österreich wurde diese Aktivität vom Dachverband pro mente austria, der Österreichischen Schizophreniegesellschaft (ÖSG) und der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (ÖGPP) getragen.
Insgesamt wurden mehr als 200 Veranstaltungen organisiert, wobei die Informationsveranstaltungen in Schulen eine Besonderheit der österreichischen Kampagne darstellten.
Darüber hinaus wurden verschiedene die Schizophrenie betreffende Themen in Pressekonferenzen, in den größten Tageszeitungen sowie im Rundfunk und Fernsehen angesprochen, wobei - wiederum ein österreichisches Spezifikum - ein Werbespot produziert wurde, der im Fernsehen gesendet und auch in Kinos gezeigt wurde.
Zahlreiche Druckwerke wie Plakate, Flugblätter, Broschüren oder Themenhefte in Fachzeitschriften wurden hergestellt, die in Apotheken, Arztpraxen und bei Veranstaltungen verteilt wurden.
Es wurde eine Telefon-Hotline sowie eine Home - page eingerichtet, die auch für anonyme Anfragen und Information genutzt werden konnten.
Auch wurden Kongresse veranstaltet, die - im Sinne des „Trialog“ - gemeinsam von psychischer Erkrankung Betroffenen, ihren Angehörigen und Experten organisiert wurden.
Ergebnisse der Evaluierung
Um einen Überblick über die Einstellungen gegenüber für die Schizophrenie relevanten Themen in der Bevölkerung - aber auch in bestimmten Bevölkerungsgruppen - zu erfahren, wurde 1998/ 1999 im Vorfeld zur Österreichischen Anti-Stigma-Kampagne eine repräsentative Umfrage durchgeführt. 2007 wurde diese Erhebung wiederholt.
Ergebnisse: Die Kampagne blieb kaum in Erinnerung. Einer Medienanalyse zufolge konnten mit dieser Kampagne ursprünglich 18 % der österreichischen Bevölkerung erreicht werden. 5 Jahre später konnten sich nur mehr etwa 7 % an diese Kampagne erinnern.
Nach wie vor bestand in der Bevölkerung ein großes Unwissen hinsichtlich schizophrener Erkrankungen; der Anteil jener, die mit dem Begriff Schizophrenie nichts an - fangen konnten, war sogar noch größer geworden und betraf nun fast jeden 4. Österreicher.
Bedeutsam erscheint, dass 2007 im Vergleich zur ersten Umfrage 1998/1999 der Anteil jener Personen, die psychisch sowie an Schizophrenie Erkrankte als gefährlich ansehen, signifikant zugenommen hatte.
Dass die Einschätzung von psychisch Kranken als „gefährlich“, einen direkten negativen Einfluss auf die Kontaktbereitschaft ihnen gegenüber ausübt, ist in zahlreichen Studien nachgewiesen worden.
Signifikant weniger Befragte als in der ersten Untersuchung wollten, dass Menschen, wie sie in der Fallvignette kurz beschrieben wurden, „mitten in der Gesellschaft“ leben sollen. Somit stieg die soziale Distanz gegenüber diesen Mitbürgern sogar an.
Eine Besonderheit dieser WPA-Kampagne war es, dass sie sich auf eine einzelne Erkrankung fokussierte.
Die Wahl fiel mit Absicht auf die Schizophrenie, da man hoffte, dass durch die Präsentation einer Erkrankung, die mit einem ausgeprägten Stigma behaftet ist, auch andere geringer stigmatisierte psychische Erkrankungen von der zu erwartenden Einstellungsverbesserung - im Sinne eines Transfereffektes - profitieren würden.
Berücksichtigt man, dass es sich bei den Einstellungen gegenüber psychisch Kranken um kulturell tradierte und fest verankerte Stereotype und Vorurteile handelt, darf nicht erwartet werden, dass mit einer Kampagne diese über Nacht längerfristig wesentlich verändert werden können.
Fokussierung auf geringer stigmatisierte Erkrankung
Da die gewünschten Ziele dieser WPA-Kampagne zumindest in Deutschland und besonders in Österreich eher verfehlt wurden, stellt sich die Frage, ob es richtig war, eine Krankheit in den Mittelpunkt zu stellen, die mit ausgeprägten Vorurteilen behaftet ist.
Schizophrenie kommt im Vergleich zu andern psychischen Erkrankungen zudem seltener vor, sodass sich der Bevölkerung wenig Möglichkeit bietet, im alltäglichen Leben mit einem an Schizophrenie Erkrankten in Kontakt treten zu können, ein Umstand, der für die Modifizierung von Einstellungen als wichtig erkannt wurde.
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen und den aus dieser Kampagne gewonnenen eigenen Erfahrungen läge es aus Ansicht des Verfassers nahe, eine Erkrankung wie die Depression in den Fokus von Anti-Stigma-Aktivitäten zu stellen, die zu den häufigsten psychischen Erkrankungen zählt und auch besser vermittelbar ist als die Schizophrenie.
tags: #Anti #Stigma #Kampagne #psychische #Erkrankung #Definition