Bei der Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, war man bis vor wenigen Jahren der Annahme, dass diese lediglich im Kindes- und Jugendalter auftritt und sich später „auswächst“. Heute weiß man, dass das in sehr vielen Fällen nicht stimmt. ADHS bzw. ADS ist unter Erwachsenen immer noch relativ häufig anzutreffen und wird tragischerweise oft jahrelang nicht erkannt.
Die Erstbeschreibung des klinischen Störungsbildes der ADHS im Kindesalter erfolgte Anfang des 20. Jahrhunderts. Lange Zeit galt diese Störung als eine ausschließlich im Kindes- und Jugendalter vorkommende Erkrankung.
Die Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) des Erwachsenenalters, auch als adulte ADHS bezeichnet, ist eine in mehreren Lebensbereichen evidente (Schule/Beruf, Freizeit, Zuhause) neuronale Entwicklungsstörung, welche zwingend im Kleinkindes- bis Kindesalter beginnt und sich ins Erwachsenenalter mit einer Persistenz von 30 bis 60 Prozent fortsetzt.
ADHS stellt eine intensiv diskutierte psychiatrische Erkrankung dar, was einerseits aus der im Vergleich zu den meisten anderen psychischen Störungen späten diagnostischen Einordnung von ADHS in die gängigen internationalen Klassifikationssysteme (International Classification of Diseases, ICD-10, Diagnostic and Statistical Manual of the American Psychiatric Association, DSM-5) und der damit verbundenen steigenden Diagnoseraten in den letzten drei Jahrzehnten resultiert. Andererseits ist dies jedoch auch auf die vonseiten der Ärzte angstbesetzte und negativ konnotierte Therapie mit Psychopharmaka, insbesondere mit Stimulanzien, zurückzuführen, welche nach Diagnosestellung von ADHS und vorrangig bei Schulkindern, zum Einsatz kommen.
Klinisch kennzeichnet sich die ADHS durch eine Aufmerksamkeitsstörung, erhöhte motorische Aktivität und impulsives Verhalten sowie die daraus resultierenden Beeinträchtigungen in der Alltagsbewältigung.
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In klinischen Verlaufsstudien konnte jedoch ein Fortbestehen mit voller Symptomausprägung oder zumindest Teilen der Symptomatik bis ins Erwachsenenalter gezeigt werden.
Die Diagnose ADHS floss erstmalig vor mehr als drei Jahrzehnten in die internationalen Klassifikationssysteme (ICD-9, DSM III) ein. Erst 1992 wurde die Störung auch als Erkrankung im Erwachsenenalter beschrieben.
Wie einführend bereits erwähnt, ist die ADHS eine Erkrankung mit steigender Praxisrelevanz für den behandelnden Psychiater, was auf eine vermehrte diagnostische Einbeziehung des Symptomkomplexes in den klinischen Alltag zurückzuführen ist.
Die Prävalenzraten von ADHS im Kindesalter betragen weltweit drei bis zwölf Prozent, wobei die Schwankungsbreite durch die Anwendung verschiedener Klassifikationssysteme in epidemiologischen Studien zu erklären ist.
Als ursprünglich nur dem Kindesalter zugesprochene Erkrankung werden die Prävalenzraten der Diagnose ADHS im Erwachsenenalter nach wie vor kontroversiell diskutiert.
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Verlaufsstudien konnten zeigen, dass 36 bis 49 Prozent aller mit ADHS diagnostizierten Kinder im Erwachsenenalter in alltagsrelevanten Situationen aufgrund assoziierter Symptome beeinträchtigt sind.
Fallberichte stärken den klinischen Verdacht, dass sich einzelne oder mehrere Symptomkomplexe in einer individuellen Ausprägung bis ins hohe Erwachsenenalter fortsetzen.
Das Geschlechterverhältnis von Mädchen und Jungen mit ADHS wird mit 1:3 bis 1:4 angegeben, was vor allem den mit Jungen in Verbindung gebrachten hyperaktiven und impulsiven Verhaltensmustern zugeschrieben wird. Im Erwachsenenalter nähern sich die Prävalenzraten bei Frauen jenen der Männer mit 1:2,5 an, was mit der im Vordergrund stehenden Aufmerksamkeitsstörung bei Erwachsenen mit ADHS in Verbindung gebracht wird.
Das größere Missverhältnis der geschlechterspezifischen Prävalenzraten im Kindesalter weist weniger auf eine Überdiagnostizierung bei Jungen hin, da die oftmals übliche Reduktion der hyperaktiv impulsiven Symptome bei ADHS im Erwachsenenalter erwiesen ist, sondern auf eine Unterdiagnostizierung von weniger klinisch auffälligen und dadurch das medizinische Angebot weniger in Anspruch nehmende Mädchen.
Die zugrunde liegenden komplexen neurobiologischen Mechanismen der ADHS sind bis zum heutigen Zeitpunkt nur partiell geklärt.
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Wissenschaftliche Ergebnisse zur Ätiologie schließen ein monokausales biologisches Korrelat der Erkrankung aus. In der Vergangenheit wurde meist von frühkindlichen Erziehungsfehlern, familiären Interaktionsproblemen, Vernachlässigung/Verwahrlosung und/ oder frühkindlichen Traumata als Ursache für die Entstehung von ADHS ausgegangen.
Nach dem derzeitigen Stand der Neurowissenschaften und dem sachlichen Umgang mit der Erkrankung werden äthiopathogenetisch multifaktoriell bedingte strukturelle und funktionelle neuronale Mechanismen angenommen, welche überwiegend durch Gen-Umwelt-Interaktionen bedingt sind (Tabelle 1).
Zwillings-, Adoption- und molekulargenetische Studien weisen auf eine im Vergleich zu anderen psychiatrischen Erkrankungen hohe durchschnittliche Heritabilität von 75 Prozent hin.
Hingegen wurde nur eine geringe Anzahl von ADHS-assoziierten Genen identifiziert, die jeweils wiederum nur einen sehr geringen Einfluss auf den Phänotyp haben.
Weiters konnten keine zusätzlichen Genvariationen in genomweiten Assoziationsstudien identifiziert werden.
Das Ungleichgewicht in der Aktivierung frontostriataler und frontoparietaler Bahnen in monoaminergen Neurotransmittersystemen wurde seit Längerem mit der Neurobiologie der ADHS in Verbindung gebracht.
Im Speziellen wurde den Katecholaminen Dopamin (DA) und Noradrenalin (NA) ein erheblicher Einfluss auf die Pathogenese der Erkrankung zugesprochen.
Exekutivfunktionen wie das Planen von Abläufen, das Arbeitsgedächtnis, die Vigilanz und die Möglichkeit, bereits geplante Abläufe zu inhibieren, sind typischerweise bei Patienten mit ADHS in Alltagssituationen und während der Durchführung neuropsychologischer Diagnostik beeinträchtigt.
Der präfrontale Kortex, welcher für Exekutivfunktionen eine wichtige Rolle innehat, erhält reichlich dopaminerge und noradrenerge Innervation von entsprechenden Neuronen aus dem Mittelhirn.
Bildgebungsstudien bei Patienten mit ADHS konnten Veränderungen der dopaminergen Übertragung bei gleichzeitig gegebener Involvierung von Exekutivfunktionen, Motivation und Aufmerksamkeit, darstellen.
Zudem stellen Stimulanzien und Nicht-Stimulanzien, welche die Transmitterübertragung von DA und NA in ADHS-relevanten Gehirnregionen beeinflussen, effektive Therapiemaßnahmen bei Betroffenen dar.
Als nicht genetische Faktoren werden Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen (Eklampsie, verringertes Gewicht des Neugeborenen und erhöhtes Alter der Mutter, fetaler Stress, Geburtskomplikationen und Schwangerschaftsdauer) sowie Nikotin- und Drogenabusus während der Schwangerschaft diskutiert.
In einer ausführlichen psychiatrischen Exploration bei gegebener Symptomatik zeigt sich im psychopathologischen Status ein reduziertes Aufmerksamkeits- und Auffassungsvermögen, ein sprunghafter und umständlicher Gedankenduktus mit fallweise erhöhter Antwortlatenz sowie eine psychomotorische Unruhe.
Hinsichtlich des Aufmerksamkeitsdefizits neigen Betroffene zu Flüchtigkeitsfehlern und Schwierigkeiten mit Organisation und Ausführung detailgenauer Arbeiten; nur durch erhöhten Aufwand kann annähernd die gleiche Leistung im Vergleich zur Normpopulation erbracht werden.
Patienten mit ADHS können sich meist nicht für längere Zeit einer Aufgabe widmen, sind schnell von Aktivitäten gelangweilt und durch eigene Gedanken und Impulse abgelenkt.
Sie fühlen sich auch durch äußere Reize vermehrt ablenkbar und leiden unter einem rezidivierenden Gefühl der Reizüberflutung; dies beschreibt die eingeschränkte Fähigkeit, eigene und fremde Informationen filtern zu können, um sich Aufgaben in einer priorisierenden Reihenfolge zu widmen.
ADHS-Patienten wirken oft versunken in ihrer eigenen Welt und haben Schwierigkeit, dem Gegenüber in der Konversation zu folgen.
Hyperaktives Verhalten manifestiert sich als ein deutlich erhöhtes Bewegungsbedürfnis, das Gefühl, „wie von einem Motor angetrieben“ zu sein, sowie das Unvermögen, sich entspannen zu können.
Weiters sind Patienten oftmals übermäßig laut und neigen dazu, viel und ungebremst zu sprechen.
Aufgrund einer herabgesetzten Impulskontrolle treffen Patienten oftmals voreilig Entscheidungen, ohne dabei mittel- bis langfristige Konsequenzen einzubeziehen.
Paradoxerweise kann es bei Patienten mit ADHS bei großem Interesse für eine bestimmte Tätigkeit oder ein Thema zu einem Zustand der Hyperfokussierung kommen, in welchem Patienten sich überdurchschnittlich gut konzentrieren und über längere Zeit (bis zu Stunden) ausdauernd und ohne Pause einem Thema widmen können.
Während der Hyperfokussierung wird die Umwelt ausgeblendet und die Zeit vergessen.
Patienten mit ADHS sind mit einer deutlich erhöhten funktionellen Beeinträchtigung im Beruf, im Privatleben sowie im Straßenverkehr im Vergleich zur Normalpopulation konfrontiert.
Partnerschaftliche Konflikte führen bei Betroffenen gehäuft zu Beziehungsabbrüchen und einer erhöhten Scheidungsrate, was die dysfunktionalen Verhaltens- und Beziehungsmuster verstärkt.
Aufgrund der verminderten Konzentrationsfähigkeit und Belastbarkeit, gepaart mit dem impulsiven und häufig distanzlosen Verhalten, kommt es in einem erhöhten Ausmaß zu beruflichen Problemen.
Patienten mit ADHS wechseln häufiger die Arbeitsstelle, werden häufiger gekündigt, sind öfter in Krankenstand und erwirtschaften im Vergleich zur Normalpopulation insgesamt ein deutlich niedrigeres Jahreseinkommen.
In Zusammenschau der vielschichtigen Symptome kann es bei Patienten mit ADHS in allen Altersstufen zu zwischenmenschlichen Interaktionsproblemen kommen, die zu Ablehnung und sogar sozialer Isolation führen können.
Zurückweisungen können von emotionalen Schwankungen mit depressiven und/oder ängstlichen Symptomen begleitet werden bzw. diese verstärken.
Die klinische Diagnose der ADHS im Erwachsenenalter (ICD-10: F90.0; einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung) ist nach den gängigen Klassifikationssystemen im Rahmen einer psychiatrischen Exploration unter Berücksichtigung der anamnestischen Angaben und des fassbaren psychopathologischen Befundes zu stellen.
Die Diagnostik kann zusätzlich durch neuropsychologische Tests und spezialisierte Fragebögen (Selbst- und Fremdbeurteilung) unterstützt werden.
Klinisch wird ADHS in drei unterschiedliche Typen eingeteilt: ADHS vom vorwiegend unaufmerksamen Typ, ADHS vom vorwiegend hyperaktiven Typ und ADHS vom kombinierten Typ (sowohl Aufmerksamkeitsdefizit als auch Hyperaktivität/ Impulsivität gegeben). ADHS vom kombinierten Typ weist die höchste Prävalenz auf und ADHS vom hyperaktiven Typ die niedrigste.
Es sei erwähnt, dass im ICD-10 die Spezifizierung der Subtypen nicht berücksichtigt wird, im Gegensatz zum DSM 5. Aufgrund des Einsatzes gleicher therapeutischer Maßnahmen hat die obengenannte Einteilung nur nur eingeschränkten klinischen Einfluss.
Es werden Symptomkomplexe sowohl für die Aufmerksamkeitsstörung als auch für die Hyperaktivität und Impulsivität mit jeweils neun charakteristischen Merkmalen beschrieben.
Zur Vergabe der Diagnose ADHS müssen 1.) mindestens sechs von neun Merkmalen aus einem oder beiden Symptomkomplexen identifiziert werden und 2.) durch die Symptomatik ein entsprechender Leidensdruck vorhanden sein (Tabelle 2).
Weiters darf die Symptomatik nicht durch eine andere psychische oder somatische Störung (z.B.: tiefgreifende Entwicklungsstörung; Schilddrüsenüberfunktion oder Substanzabhängigkeit) erklärt werden.
Nach Möglichkeit ist es von Vorteil, Verwandte (z.B.: Eltern, Geschwister) oder Bekannte (z.B.: Partner) zu der vergangenen und aktuellen Symptomatik des Patienten zu befragen.
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